Demokratie-Bewußtsein-betr.: "Freiheit stirbt mit Sicherheit", taz vom 12.12.88

betr.: „Freiheit stirbt mit Sicherheit“, taz vom 12.12.88

Schlimm ist nicht nur die klägliche Beteiligung an dem Kölner Kongreß zu Bürgerrechtsfragen, schlimm ist vor allem, daß mensch offenbar ein weiteres Mal im Reagieren auf aktuelle und künftige Bedrohungen von Bürgerrechten steckenblieb.

Kommt jemand auf die Idee, es könnte sinnvoller sein, sich nicht nur auf Aktionen gegen demokratiefeindliche Gesetze und Verfahrensweisen zu beschränken, sondern mindestens gleichrangig Ursachen und Beeinflussungsmöglicheiten des herrschenden Demokratieverständnisses zu erforschen und daraus Strategien für politisches Handeln zu entwickeln, wird das als „Steckenbleiben in philosophisch-soziologischen Betrachtungen“ abqualifiziert.

Ist es denn so abwegig, sich Gedanken über die Beweggründe des Millionenpublikums zu machen, das regelmäßig mit Schaum vorm Maul die Denunziationsserie von XY-Zimmermann anschaut, anstatt mit Protestaktionen auf deren Einsicht und demokratisches Gewissen zu appellieren? Bevor diese „Durchschnittsbürger“ überhaupt bereit sind, Appelle an sich herankommen zu lassen, muß uns etwas einfallen, wie deren Panzer aus Angst, Vorurteilen, Selbstgerechtigkeit und Aggressivität aufgeweicht werden kann!

Nichts gegen Aktionen, aber ohne vorbereitende gründliche, bewußtseinsbildende Arbeit an der Zielgruppe bleiben sie vergebliche Liebesmüh (siehe Volkszählungsboykott). In der Natur der Sache liegt es, daß diese Arbeit fundamental getan werden muß, also an die Wurzeln der Sozialisationsagenturen gehen muß. Die Schlacht um das demokratische Bewußtsein ist schon verloren, wenn wir sie nicht vor allem in die Kindergärten, Klassenzimmer, Hörsäle und Betriebe tragen. Wer erst einmal begriffen hat, worin die Würde freier BürgerInnen besteht, wird auch bereit sein, sich gegen Denunziation, Überwachung, Entmündigung und Gefährdung von Freiheitsrechten zu wehren.

Henning Bähr, Oldenburg