Weihnachtsschnäppchen

Wie man den kleinen Mann bettet, so liegt er ...  ■ VON Gabriele Goettle

Jeder kennt sie, die bunten Faltprospekte, auf denen dubiose Firmen mit billigen Reiseangeboten zu ihren Verkaufsveranstaltungen locken. Per Postwurf kommen sie ins Haus und zielen auf Interessenten aus den unteren Einkommensgruppen, auf Hausfrauen, Schichtarbeiter und Rentner, die sich mal, außerhalb der Reihe, etwas Gutes tun möchten. Angeboten werden Tagesausflüge im „modernsten Luxusreisebus“, beispielsweise in den „vorweihnachtlichen Teutoburger Wald mit vielen Extras und manch schöner Überraschung“. Es biete sich, so wird versprochen, die Gelegenheit zu „gemeinsamem Singen mit beliebten Opernstars“, und außerdem lasse sich dann im Haus „Elfriede –Moden“ ein „Weihnachtsschnäppchen machen“. Dazu gebe es vielerlei Geschenke, plus Weihnachtsmann und einem „Gänsebratenessen vom Feinsten“, alles gratis und im Fahrpreis von ca. 30 Mark enthalten.

Offenbar finden sich für diese Reisen immer einige Interessenten, so auch an diesem Morgen. Kurz nach fünf bilden sich unter der Bogenlampe vor dem S-Bahnhof kleine Grüppchen von Reiselustigen. Ein älterer Herr mit wirrem Haar und alter Voigtländer-Kamera vor der Brust steht starr wie ein Standbild des deutschen Nachkriegstouristen. Eine junge Familie mit schlafendem Kind auf dem väterlichen Arm hat bereits Anschluß gefunden an einen gehbehinderten Rentner und zwei alte Damen. Die neu Hinzukommenden stellen ihre Beutel und Taschen ab, in denen sie verbotenerweise Reiseproviant mit sich führen und hören einem dicken Mittsechziger in brauner Kunstlederjacke zu, denn er weiß offensichtlich alles über diese und andere Reisen.

Wie angekündigt kommt nach einiger Zeit der Luxusreisebus, sogar doppelstöckig. Der Fahrer ist übernächtigt und schlecht gelaunt. In rüdem Ton werden die Fahrgäste herumkommandiert. So wissen sie wenigstens gleich, daß sie nicht normale Reisende sind, sondern Teilnehmer einer Firmenveranstaltung. Alle müssen sofort wieder aussteigen. Mit einem: „Herrschaften, sind wir denn im Kindergarten!“ werden den nun wieder Einsteigenden die Pässe für den Grenzübertritt abgenommen. Verlegen kichernd flüchten sich die Damen und Herren aufs Oberdeck, dann geht es los. Man fahre zum Busbahnhof, wird über Lautsprecher bekanntgegeben, wo dann, wegen mangelnder Beteiligung, alle in einen kleineren Bus umsteigen sollen.

Die angekündigten Überraschungen treffen die Reisenden früher und nicht so wie erhofft. Nach dreißigminütigem Warten in der Kälte kommt kein anderer Bus, stattdessen die Anweisung, man fahre nun doch mit diesem, dafür aber nicht in den Teutoburger Wald, sondern „nach Schleswig Holstein rauf“. Nur der dicke Herr mit der Kunstlederjacke widerspricht und sagt: „Also so geht's ja nicht. Ich glaub, da muß ich mal mit Wolfgang reden.“ Wer Wolfgang ist, bleibt ungesagt, aber der drohende Unterton stellt alle zufrieden. Wo genau es hingehen soll, wagt jedoch niemand mehr zu fragen.

Auf dem Weg zur DDR-Grenze legt der Fahrer ein schneidiges Tempo vor und läßt über Lautsprecher wissen, daß die Herrschaften froh sein könnten, überhaupt zu fahren in diesem Bus für 75 Fahrgäste, wo sie doch nur 30 Leutchen seien, und statt einem goldfarbenen Kettchen gebe es eben nun Rotkohl, daran sei nichts zu ändern. Während sie ihr Pelzjäckchen auszieht, sagt eine alte Dame begütigend: „Der Busfahrer kann je eigentlich nichts dafür, daß er uns rumfahren muß“, eine andere antwortet: „Wir können ooch nischt dafür, daß wir uns hier so verladen lassen.“

Alle Raucher sitzen im hinteren Teil des Oberdecks zusammen. Die junge Familie hat das schlafende Kind auf den Rücksitz gebettet und trinkt sich aus kleinen Schnapsflaschen Stimmung an. Er, Metzger im Fleischhof, ist unlängst erst von der Spätschicht gekommen und aufgekratzt. Die Gattin ist munter und unternehmungslustig. Unentwegt schlägt sie ihrer ebenfalls mitfahrenden dicken Schwester begütigend auf den Rücken. Diese ist frisch geschieden und hat es schwer, bald aber ist auch sie zur Heiterkeit entschlossen, und alle singen den Schlager mit, der aus dem Lautsprecher dröhnt: „... jaaa, wir sind eine fröhliche Baaaande“. Draußen, über der volkseigenen Wintersaat, dämmert es bereits, und heimelig blinken die Lichterketten und roten Tannenbäume aus Glühlämpchen an den Fenstern der Bauernhäuser.

Nachdem die Transitstrecke überwunden ist, werden die Reisenden eingeweiht in Route und Fahrziel. Es gehe zur Ostsee, wird befohlen, dort, in Großensee, zwischen Lübeck und Eutin Verkaufsveranstaltung, anschließend gemeinsames „Entenbratenessen“. Danach folge die Weiterfahrt nach Heiligenhafen, vierstündige Schiffsfahrt nach Dänemark und anschließende Rückreise nach Berlin. Alle geben sich angenehm überrascht, nur der Herr mit der Kamera ist entsetzt. Er war bis jetzt der Meinung, auf dem Weg zum Teutoburger Wald zu sein, auf den er sich zu Hause generalstabsmäßig vorbereitet hat, und nun fährt er ins Ungewisse. Er entfaltet seine Deutschlandkarte und sucht mit zitterndem Finger die neue Strecke.

Die Verkaufsveranstaltung findet in einem abgelegenen Haus am See statt. Der Neubau ist häßlich und scheint einzig dem Zweck zu dienen, Busladungen aufzunehmen und abzuspeisen. Zwei lange Tischreihen, bedeckt mit weißem Papierfließ, auf dem noch die Spuren vorhergegangener Mahlzeiten zu sehen sind, werden zum Platznehmen zugewiesen. Am karg geschmückten Weihnachtsbaum glimmen elektrische Kerzen, Geweihe zieren die Wände, es ist überheizt und durchs Fenster flutet das Sonnenlicht. Man wartet, unterhält sich in gedämpfter Lautstärke und schiebt allmählich das Kaffeegedeck zur Mitte des Tisches, weils ja Entenbraten geben soll.

Dann betritt ein farbloser Mittdreißiger den Saal und bittet mit sonorer Vertreterstimme um Ruhe. Alles verstummt.

„Einen wunderschönen guten Morgen, meine Damen und Herren, die Firma Juwel-Reisen heißt sie herzlich willkommen.“

„Mahlzeit“, rufen die Reisenden und kichern.

„Ja, da haben Sie schon recht, dafür, daß es so spät geworden ist, will ich mich gleich entschuldigen, auch für die Veränderungen, ich hoffe aber, ich kann Sie für all das entschädigen.

Jetzt lassen sie mich Ihnen mal sagen, Sie bekommen von uns nachher alle ein gemeinsames Essen bezahlt und zwar Entenbraten. Auf dem Schiff gibt es für jeden einen Begrüßungsdrink und Kaffee und Kuchen gratis.“

Zuruf: „Sehr gut!“

„Ja eben. Und das ist noch nicht alles, nein, es kommt noch 'ne ganze Menge mehr auf Sie drauf zu. Es erhält nämlich jeder Fahrgast zum MITNEHMEN: 200 g Griebenschmalz, 450 g Salami, ein Glas tafelfertigen Rotkohl, eine Flugente ... lachen Sie nicht, das meine ich jetzt ganz ernst, sie bekommen eine Flugente, ca. 1.500-1.600 g schwer und tiefgefroren. Und dann bekommen sie alle noch jeder ein siebenteiliges Teeservice mit einer Teekanne dabei.“

Allgemein wird bestätigt, daß man da nicht meckern könne, dann eröffnet er die eigentliche Verkaufsveranstaltung, die natürlich längst begonnen hat. Diejenigen, die etwas gegen solche Veranstaltungen haben, bittet er, spazieren zu gehen und erst dann wieder zu kommen, wenn das „Mittagessen serviert wird“, denn „nichts ist schlimmer, als Gäste zu haben, die anderen Gästen den Tag versauen, durch Störungen und Zurufe“. Nach einer peinlichen Pause, in der niemand sich rührt, fährt er fort: „Ich zeige Ihnen hier und heute letztmalig nicht irgendwelche Wollbetten, sondern einen medizinisch-therapeutisch anerkannten Gesundheitshilfsartikel.“

Es folgt ein langer Vortrag voller Abschweifungen über das Lasttier der Indios, das geduldig sein Lebtag lang das doppelte Körpergewicht schleppe und dazu noch allen Temperaturschwankungen standhalte, dessen Haar, versponnen in diesen Decken, Unterbetten und Kopfkissen, gerade noch rechtzeitig komme, um das Schlimmste zu verhüten, nämlich Krankheit, Siechtum und Tod. Die wiederum träfen gerade die Arbeiterschaft, weil sie keiner körperlichen Belastung mehr ausgesetzt sei. Der Metzger widerspricht, muß sich aber belehren lassen, daß gerade ein Herumstehen in feuchten Gummistiefeln und das Tragen von Rinderhälften natürlich noch gravierendere Folgen für die Gesundheit habe als das Bedienen von Maschinen.

Dann setzt der Vertreter, Herr Raab mit Namen, zum vernichtenden Schlag gegen die Schmutzkonkurrenz an: „Diejenigen, die über all das lachen, das sind diejenigen, die noch unter Daunen und Federbetten schlafen, denn wie haben wir denn früher geschlafen?

Zuruf: „Aufm Strohsack?

„Richtig. Und warum? Daunen- und Federbetten waren das Privileg der Reichen, oder nicht! Das ist geschichtlich nachgewiesen! Und was die Wohlhabenden können, das können wir auch? Aber nicht mit mir! Ich möchte Ihnen nicht erklären, wie solch eine Kultur später im Endeffekt aussieht aus Daunen- und Federbetten, und wissen Sie auch, warum nicht? Dann würden Sie nachher nichts mehr essen wollen. Das will ich Ihnen mal sagen, daß in der heutigen Zeit Daunen und Federbetten als sehr schädlich empfunden werden und zwischenzeitlich auch wissenschaftlich als Gesundheitsrisiko anerkannt worden sind. Und wissen Sie auch warum, na?

Zurufe: „Unhygienisch?

„Ja eben und warum? Weil es Milben darin gibt. Und solch eine Bettenstaubmilbe, die in ihrem Bett herumläuft, o ja, die haben wir ja da ...“ Herr Raab zeigt das fotokopierte Ungeheuer herum.

„So ein Tier, millionenfach vergrößert, mit normalen Augen überhaupt gar nicht zu sehen, das löst z.B. Allergien aus. Daß also Daunen- und Federbetten gefährlich sind, daß sie Erkrankungen hervorrufen, das wissen Sie ja selbst, meine Damen und Herren.

Und dann sage ich Ihnen noch eins, wußten Sie eigentlich, daß man mit Daunen- und Federbetten Menschen umbringen kann, nein? Jährlich erliegen in Deutschland fast 500 Kleinstkinder dem Erstickungstod in ihren Daunen- und Federbetten. Und jetzt geht es nämlich los, wer das nicht glauben sollte, da mach ich doch nur eins!“ Hält eine alte 'BZ' in Plastikhülle hoch.

„Ich lese Ihnen diese Schlagzeile vor: 'Mutter erstickte behinderte Tochter', da lese ich Ihnen nur einen einzigen Satz draus vor, 'Monika W. nahm ein Daunenkissen, drückte es dem spastisch gelähmten Mädchen auf den Kopf bis es sich nicht mehr bewegte.' Ja, wieviele Beweise wollen Sie denn noch haben? Und dementsprechend sage ich, weg mit Ihren Daunen- und Federbetten!!!

Nachdem er zur allgemeinen Verblüffung dann auch noch auf den Tisch steigt und sich im Vorführbettzeug wälzt, um zu demonstrieren, wie sehr ein Mensch nächtens unter einer Daunendecke leidet, hat er alle Herzen gewonnen. Nur zögernd läßt er sich den Preis für die atmungsaktiven Lebensspender entlocken, 998 Mark, für Kissen, Decke und Unterbett, dazu gratis, als „Dankeschöngeschenk“ ein Satz Frotteebettwäsche. Am Ende machen viele von denen, die sich vorgenommen hatten, nichts zu kaufen, für einen Tausender ihr „Weihnachtsschnäppchen“. Auch die Schwägerin des Metzgers greift zu.

Später auf der Heimfahrt kurz vor Mitternacht, als die Schiffsreise genossen und die Bombenstimmung, trotz gewaltiger Füllmengen und Legitimation per Deckenkauf, immer noch nicht aufgekommen ist, als alle Mitnahmepräsente bereits im Gepäckfach verstaut und die Vesperbrote trotz Verbotsschild verzehrt sind, da schweben die Widersprüche immer noch verwirrend und unauflösbar über der erschöpften Reisegruppe.

Ein Durcheinander aus mordenden Müttern, in Daunen erstickten Kindern und atmungsaktiven Lamakissen herrscht in den Köpfen. Der Metzger schaut mehrmals besorgt nach, ob sein schlafendes Kind noch atmet und kann nur mit knapper Not verhindern, daß die korpulente Schwägerin, als sie aufsteht in einer Kurve, um die heruntergefallene Bierflasche zu suchen, hingeschleudert wird auf den Rücksitz und den zarten Kinderkörper.

Bis zuletzt ist allen unklar, ob sie jetzt eigentlich abgestaubt haben oder ausgenommen wurden. Einerseits weiß der Prolet konstitutionell zwar ganz genau, daß es gegen jede Erfahrung spricht, von jemandem etwas abstauben zu wollen, der das ganze Arrangement freiwillig anbietet. Wenn man also nicht geplündert hat, dann wurde man geplündert, aber wo, aber wie? Zwar war alles umsonst, trotzdem gab man viel Geld aus für Zigaretten, Schnäpse, Weihnachtsgeschenke und Süßigkeiten im Intershop, vom Deckenkauf wider Willen ganz zu schweigen. Wäre man zu Haus geblieben, so hätte man zwar einerseits viel Geld gespart, aber andererseits wäre es viel teurer gekommen, denn Essen muß man auch. So war das Essen gratis, man hatte einen schönen Tag, und sogar für die kommenden Tage sind Lebensmittel geschenkt worden und ein Teeservice, und schließlich, irgendwann hätte man das alles ja doch kaufen müssen; hätte man doch etwas tun müssen, gegen die Kreislaufstörungen und die Blutleere im Kopf, die nächtlichen Wadenkrämpfe. Der ohnehin unvermeidliche Konsum ist lediglich vorweggenommen, zudem enorm verbilligt. Und die Schiffsreise, die Wurst, das Schmalz, der Rotkohl im Glas, das Geschirr, der Kuchen, das Mittagessen, die Busfahrt, die Ente und der ganze Tag? Wofür eigentlich die 30 Mark? Es läßt sich einfach nicht ausrechnen. Der Metzger sagt, während er seinen Kopf auf das atmungsaktive Kissen bettet: „Hauptsache, man kommt mal raus. So isses doch!“