„Antisowjetische Propaganda“ fällt weg

■ Sowjetische Regierungszeitung 'Iswestija‘ veröffentlicht neuen Strafrechtsentwurf

Berlin (afp/taz) - Das Kernstück der Perestroika, die Rechtsreform, nimmt immer konkretere Gestalt an. Hatten sich die Parteikonferenz im Juni und die Sitzung des Obersten Sowjet Ende November noch mit Absichtserklärungen für die Entwicklung einer Sozialistischen Rechtsstaatlichkeit begnügt, so sind nun die Grundzüge des neuen Strafrechts in der Sowjetunion veröffentlicht worden. Nach dem am Freitag in der Regierungszeitung 'Iswestija‘ abgedruckten Entwurf, der 76 Einzelartikel in neuen Kapiteln umfaßt, fehlt ein Artikel, nach dem ganze Generationen von „Abweichlern“ und „Dissidenten“ in der Vergangenheit abgeurteilt wurden: der über „anti-sowjetische Propaganda“. Bisher konnte jeder, der sich kritisch über gesellschaftliche Zustände oder politische Handlungen der Führung ausgelassen hatte, mit diesem Gummiparagraphen abgeurteilt werden. Der Wegfall dieses Straftatbestands, der auch in anderen Sozialistischen Ländern unter Einschluß Jugoslawiens als „antisozialistische Tätigkeit“ weiterhin angewandt wird, bedeutet, wenn er verwirklicht wird, die Erfüllung einer der wichtigsten Forderungen von Oppositionellen.

Doch so weit ist es noch nicht. Der Entwurf soll nach dem Wunsch Gorbatschows zuerst ausführlich in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Ausdrücklich ordnete der Kreml-Chef die Veröffentlichung des Gesetzeswerkes an. Bis zum 15.März haben nun die entsprechenden Gremien Zeit, ihre Schlußanträge auszuformulieren. Durch die öffentliche Debatte will Gorbatschow die Möglichkeit für Änderungen offen lassen.

Brächte das neue Gesetzeswerk Rechtssicherheit in den Bereich der politischen Meinungsäußerung, so müssen Wirtschaftskriminelle und die der Korruption Beschuldigte jetzt besser aufpassen. „Sozial gefährliche Akte“, die dem „Sozialwesen der UdSSR, ihrem politischen und wirtschaftlichen System schaden“ werden künftig schärfer bestraft. Überhaupt sollen die Begriffe „Verbrechen“ und „Delikte“ neu und klarer definiert werden. Die Todesstrafe ist auch im neuen Entwurf nicht abgeschafft. Das Mindestalter für Strafverfolgung wird jetzt auf 16 Jahre festgelegt.

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