Armenischer Atommeiler wird doch abgeschaltet

■ Ryschkow kündigt Stillegung des AKWs wegen „unsicherer geologischer Bedingungen“ an / Bergungsarbeiten in Spitak eingestellt / Neue Opferbilanz

Berlin (afp/ap/taz) - Jetzt soll es doch stillgelegt werden, das armenische Atomkraftwerk „Oktoberjan“ bei Medsamer. Hieß es noch mit dem Hinweis auf den dringend benötigten Strom vor Tagen, das Atomkraftwerk könne erst in zwei Jahren abgeschaltet werden, so ist offenbar ein Bewußtseinswandel in der sowjetischen Führung eingetreten. Am Freitag abend erklärte Ministerpräsident Ryschkow einem französischen Fernsehteam, das Atomkraftwerk in der Nähe von Eriwan werde abgeschaltet. Ryschkow, der sich im Erdbebengebiet aufhielt, erklärte ferner, er werde seine Entscheidung nach seiner Rückkehr nach Moskau offiziell bekanntgeben. Ein genaues Datum nannte der Ministerpräsident jedoch nicht. Das Atomkraftwerk war schon zu Beginn der Woche abgeschaltet worden. Das AKW habe zwar dem Erdbeben widerstanden und sei nicht beschädigt worden, erklärte der Ministerpräsident. Ryschkow gab nun aber zu, daß es „unsichere geologische Bedingungen in Armenien“ gibt, die zu schnellem Handeln drängten.

Die Bergungsarbeiten in der vom Erdbeben zerstörten nordarmenischen Stadt Spitak sind entgegen anderslautender Ankündigungen eingestellt worden. Wie ein 'afp' -Korrespondent vor Ort beobachtete, hatten Bulldozer bereits am Freitag mit dem Schleifen der Gebäudereste begonnen. Rettungsmannschaften gelang es, bis zum Samstag noch 22 Überlebende aus den Schutt der verwüsteten Stadt Leninakan zu holen.

Leichengeruch liegt über den beiden Städten Spitak und Leninakan. Mit dem Hinweis auf die Seuchengefahr hieß es von offizieller Seite, die Suche nach Toten müsse vorangetrieben werden. Erschütternde Szenen spielten sich in Leninakan ab, als eine Mutter und ihr dreijähriges Kind gerettet wurden. Eine Kinderärztin berichtete, die 30jährige Frau habe sich allem Anschein nach immer wieder die Fingerkuppen aufgeschnitten, und ihr Kind das Blut saugen lassen.

Die jüngste offizielle Opferbilanz des verheerenden Erdbebens wurde am Samstag von der sowjetischen Nachrichtenagentur 'Tass‘ mit 23.390 Toten angegeben, eine Zahl, die nur halb so hoch wie die ist, die Außenminister Schewardnadse genannt hatte. Am Donnerstag waren die Rettungsarbeiten bereits in Kirowakan eingestellt worden, das weniger von dem Beben in Mitleidenschaft geworden wurde. Ob auch in Leninakan die Bergungsmannschaften den Heimweg angetreten hatten, war am Sonntag nicht zu erfahren. Hilfsmannschaften aus Frankreich, Österreich und den USA haben schon am Samstag die Arbeit eingestellt.

Die 'Komsomolskaja Prawda‘ hatte am Samstag „einige Leute“ beschuldigt, die nationalistischen Spannungen im Transkaukasus auch nach der Katastrophe aufrechterhalten zu wollen. Das Organ des kommunistischen Jugendverbandes ließ keinen Zweifel daran, daß diese Kritik dem Karabach-Komitee galt. Gegen Mitglieder des Karabach-Komitees, die wegen „Aufwiegelung“ zwischen den Nationalitäten und wegen Verbreitung „lügnerischer Erfindungen“ verhaftet worden sind, wurden juristische Schritte eingeleitet, berichtete 'Tass‘.

Der sowjetische Ministerpräsident Ryschkow hatte am Freitag abend dem Moskauer Außenministerium mangelnde Unterstützung von ausländischen Helfern vorgeworfen. Erst eine Woche nach dem Beben seien sowjetische Spezialisten vor Ort geschickt worden, während aus dem Ausland bereits am dritten Tag Experten eingetroffen seien.