Schlechte Zeiten für Fidelio

■ Harnoncourt und Palitzsch haben an der Hamburger Staatsoper Beethovens einzige Oper einstudiert

Noch vor ein paar Jahren wäre das Freiheitspathos des Fidelio als Schein zu entlarven gewesen, als Schein zudem, der auffällig gewaltsam herbeigezwungen werden mußte. Schon der Plot wäre als Lebenslüge einer Klasse leicht zu entziffern: Ehefrau rettet freidenkerischen Gatten aus dem feudalen Kerker, ein guter Herrscher entläßt das Paar ins von Anfang an skizzierte Familienglück, das Freiheit bedeuten soll. Natürlich kam auch Beethoven mit dieser Konstruktion nicht zurecht; seine zwei Bearbeitungen der Partitur geben Aufschluß über verdächtige Kraftakte auf dem Gebiet der Ästhetik.

Doch nichts langweilt heute mehr als Ideologiekritik. Das schöne Gefühl überzeugte eher, aber im Falle Beethovens ist es noch nicht ganz gestattet. Auch das zeigt sich in der Hamburger Neuinszenierung. Sie schwankt zwischen zeitdiagnostischem Regietheater und neuer Innigkeit, weiß nicht, was sie will und stürzt schrecklich ab.

Schuld daran ist nicht zuletzt ein unausgetragener Konflikt zwischen Nikolaus Harnoncourt, der empfindsamen Seele, und seinem Regisseur, dem heute 80jährigen Brecht-Schüler Peter Palitzsch. Er sucht ein Lehrstück, das ihm Harnoncourt verweigert, er will laut werden, Harnoncourt ist leise, kommt mit kleinem Orchester, jungen, völlig überforderten Solisten daher und läßt meist sehr langsam spielen.

Das konnte nicht gut enden, trotz wochenlanger Vorab -Einstimmung in der Lokalpresse. Die Hamburger haben nach der Premiere am vergangenen Samstag ziemlich unisono gebuht. Das besagt nicht viel, denn sie mögen ihre Opern hinterher trotzdem.

Ein Nazi-KZ (mindestens) mußte es sein, worin das so wenig plausible Libretto spielt, samt den Geleisen zum Gitterzaun. Seit Lanzmanns Film Shoah gehören sie offenbar obligatorisch zum Gedenkset und markieren auch in diesem Fall doch nur Verdrängung zweiten Grades.

In der Figur des allgegenwärtigen Kerkermeisters Rocco ist die Dummheit dieser Spekulation auf den antifaschistischen Reflex offenbar - und schwer zu ertragen. Rocco hätte doch wohl einer jener schrecklichen Beamten zu sein, die Hauptfigur also, in der sich die spezifische Modernität der Vernichtungsmaschinerie verkörperte. Doch das ist der brave Basso profundo nun mal nicht, in Hamburg sehr schön gesungen von Matti Salminen, weder bei Beethoven, noch aber - was schwerer wiegt - bei Peter Palitzsch. Das Erbstück der italienischen Oper tapert wie eh und je über die Bühne, grundguter Vater auch im Angesicht der Schergen.

Gar so ernst gemeint war diese aktuelle Mahnung an die Geschichte wohl nicht, zumindest nicht so ernst, daß sie dramaturgische Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Umgehend darf daher der gefangene Florestan als Christus an Scorseses Kreuz gar hangen und auf die letzte Versuchung Leonores warten. Und weil Tagesthemen wie dieses sich immerzu flott herunterbeten lassen, endet das Ganze als grüner Parteitag unter dem Regenbogen. Die glücklichen Gefangenen bekommen echte Sonnenblumen in die Hand gedrückt, unschwer ist im königlichen Gouverneur Ferdinand der Regierungskommentar Ernst Dieter Luegs wiederzuerkennen.

Natürlich hatte Palitzsch das nicht im Sinn. Die Demontage seiner selbst, wie auch seiner Zeit etwa als Frankfurter Intendant in hochpolitischen Umständen, ist eine erschütternd unfreiwillige. Nikolaus Harnoncourt dirigiert dagegen an und scheitert nicht nur an diesen Trümmern eines Theaterkonzepts. Er selbst (oder die neue Intendanz der Hamburger Staatsoper) hat sich für junge Sängerinnen und Sänger entschieden. Vor allem der Tenor Josef Protschka versagt schauerlich just im musikalischen Nervenzentrum des Werkes, der großen, vorbildlos schwierigen Arie des Florestan. Auch die altgedienten Philharmoniker leisten passiven Widerstand gegen einen Beethoven, der so unerhört zwar nicht ist, den sie so aber nun doch nicht kennen. Woher auch? Sie verwackeln beinahe jeden Takt. Harnoncourt nämlich möchte ihn, den Mißbrauchten, entlassen aus so vielen historischen Beweislasten.

„Oh namenlose Freude“ zum Beispiel singt Leonore, die Fidelio-Verkleidung hat sie abgelegt, der Schurke Pizarro ist schon entmachtet. Im äußersten piano muß sie einsetzen, in genauer Entsprechung des Wortes „namenlos“ ; das Tempo ist quälend langsam, der jungen Jugoslawin Ana Pusar kippt tatsächlich die Stimme weg: Sie kann es nicht fassen, fängt sich, sachte läßt Harnoncourt sein Kammerorchesterchen Fahrt aufnehmen, ein ganz und gar privater Jubel darf aufklingen.

Das ist schön, anderes ist nur so gemeint, immerhin ist die Absicht erkennbar. Ein digitales Denken in kleinen metrischen, rhythmischen, harmonischen und melodiösen Einheiten, durch präzise Akzenturierungen voneinander getrennt, möchte der Musik gegen ihre bedeutungsschwere dramatische Funktion Recht geben. Oft ermüdet diese unentwegte - und immerzu von technischen Mängeln gestörte Suche nach neuen Abstufungen vor allem des Tempos; Spannungsbögen erschlaffen, eine gewisse Tüfteligkeit lähmt die Neugier auf die nächste, zweifellos philologisch einwandfreie Korrektur der Hörgewohnheiten (selbstverständlich verzichtet Harnoncourt auf den seit Gustav Mahler eingebürgerten Brauch, vor dem Finale die dritte Leonorenouvertüre zu spielen).

Es mag gute Gründe geben, diese häppchenweise Zubereitung eines einst emanzipatorisch gemeinten Ganzen konservativ zu nennen - nicht etwa, weil sie ein historisches Klangbild wiederherstellt. Aber Harnoncourt erlag dieser Gefahr schon immer weniger als mancher seiner Anhänger. Im Gegenteil: Eine Art prähistorischer Beethoven wird hörbar, ein großer Installateur universal programmierter Gefühlscodes, die außerhalb aller Zeitumstände um ihrer selbst willen formuliert sind, in einer ausschließlich innermusikalischen Semantik. Als sei die barocke Affektenlehre, die Harnoncourt so gut kennt, auch für Beethoven so lange noch gar nicht vergangen gewesen.

Wenn es zuträfe? Es fällt vorerst schwer, daran zu glauben. Keine gute Zeit also für Fidelio, vielleicht überhaupt keine Beethovenzeit. Für die Destruktion des Klassikers ist es bereits zu spät. Sie ist ihrerseits durchschaubar geworden. Und für seine Restauration als digitales Klangmuster sentimenaler Regungen jeglicher Art ist es noch zu früh. Aber Harnoncourt, modern in seiner Art, übt schon.

Niklaus Hablützel