KOMMENTAR
: Kalte Machtergreifung

■ Zur Aussage von Kewenig vorm Untersuchungsausschuß

Parlamentarische Untersuchungsausschüsse ermitteln in den seltensten Fällen Wahrheiten, schon gar nicht die Wahrheit; aber sie sind die politischen Notariate von Wahrheiten, die im Umlauf sind. Sie beglaubigen meistens, was die Öffentlichkeit schon weiß. Die Öffentlichkeit in Berlin wußte, daß der Innensenator Kewenig lügt; sie wußte, daß der Verfassungsschutz Presse und Parlamentarier bespitzelt. Der Verdacht ist in Berlin schon so weit institutionalisiert, daß nunmehr die Verantwortlichen Beweise bringen müssen. Schon ein Flippi zwischen Ost und West, ein verwirrter Mauerspringer, hatte inzwischen dieselbe Glaubwürdigkeit wie ein Innensenator. Jetzt ist die Glaubwürdigkeit dieses sogenannten „Steinewerfers“ vom Ausschuß beglaubigt worden.

Jetzt ist der Stein der Amtsverschwiegenheit umgedreht, und die beamteten Würmer im rechtsfreien Raum winden sich vor dem heiteren Betrachter. Ja, gibt Kewenig zu, jener Mauerspringer sei als VS-Agent angestellt gewesen, und zwar „versuchsweise“. Eine schwarze Lederjacke hatte der fürsorgliche Dienst gekauft, wegen der Klasse-Tarnung innerhalb der „Szene“. Versuchsweise? Dann kommt die „Weisung“ des Innensenators, den Kontakt abzubrechen. Was heißt das? Kewenig weiß alles und kümmert sich um das letzte Agentenwürstchen? Ist das so, muß er für alles politisch haften. Oder es ist schon die nächste Serie von Halblügen. Nun aber interpretiert der VS-Chef Wagner diese Weisung „auf eigenes Risiko“ und läßt den Mauerspringer zum SPD –Abgeordneten Pätzold gehen. Mehrfach. Und mehrfach läßt er sich über diese Besuche berichten. Also: Kewenig will alles wissen; er weiß nur nicht, daß sein höchster Beamter seiner Weisung zuwiderhandelt. Also muß er zurücktreten. Oder er hat gelogen. Dann muß er auch zurücktreten. Oder Wagner hat gegen die Weisung verstoßen. Dann muß er sein Amt zur Disposition stellen. Oder er lügt für den Senator. Dann muß er auch sein Amt zur Verfügung stellen. Und: Auch deswegen muß Kewenig zurücktreten.

Aber ganz gleich, wie erheiternd diese Mischung von Slapstick und Striptease, die unsere Verfassungsschützer jetzt bieten, auch sein mag – die Verhältnisse, die sie schaffen, oder die Verhältnisse, die sie meinen, voraussetzen zu dürfen, sind alles andere als erheiternd. Politik wird gemacht aus Worten und Macht. Wenn Worte nicht mehr zählen, wenn es gleichgültig ist, ob sich Kewenig entlarvt oder lügt, dann ist jeder weitere Tag, den er im Amt bleibt, ein kalte Machtergreifung. Ein Innensenator, der sich eine solche Amtsführung, der sich solche öffentlichen Aussagen über diese Amtsführung ohne Konsequenzen erlauben darf, fordert die parlamentarische Demokratie selbst dem allerformalsten Verständnis nach heraus. Die Würde dieses Mannes ist längst dahin, jetzt geht es um die Würde auch des letzten CDU-Hinterbänklers.

Klaus Hartung