Drahtmonster gegen Sissis Frohnatur

■ In Bremerhavens Kunsthalle hämmerten, pochten und klingelten die 50er Jahre Drahtgebilde des Kasseler Professors Harry Kramer leider nur bis gestern

Wer sucht schon in den Vorweihnachtstagen die Kunsthalle auf? Die Menschen, die in die City kommen, sind eingeklemmt zwischen Weihnachtsmarkt und Kauflust. Wer aus dem Gewühl heraus ist und die immergleichen Himmelstöne aus allen Lautsprechern hinter sich gelassen hat, rennt zum Parkplatz und fährt nach Hause. Die Kunsthalle, nicht weit von Bremerhavens zentraler Kaufzone entfernt, bleibt im Abseits. Schade um Harry Kramer und seine merkwürdigen Drahtgebilde, die wochenlang eben da ziemlich alleingelassen hämmerten, pochten und klingelten.

Harry Kramer, Professor in Kassel, Jahrgang '25, hat mit beweglichen Objekten in den 50er und Anfang der 60er Jahren für kurze Zeit in die Kunstgeschichte eingegriffen. 1964 stellte er seine Skulpturen auf der Dokumenta aus, dann mottete er sie im Keller ein, bis Jürgen Wesseler, Kunsthallenchef und Liebhaber alles

Abstrakten, den vergessenen Kramer wieder ausgrub.

„Nur im Kontext von Zeit und Raum ist Kunst zu erfahren“, schreibt Kramer mit Blick auf seine Arbeiten und ihre damalige Rezeption. „Wir haben mit Mitteln gearbeitet, die sich anboten: Theater, Film, Skulptur, pur oder gemischt, uns war das egal, solange die jeweiligen Disziplinen unserer Unbefangenheit kein Korsett anlegten.“

Die Eisendraht-Gebilde, verschieden große, runde oder würfelförmige Gitterwerke, aus unregelmäßigen Maschen geflochten, mit elektrisch betriebenem Innenleben oder Kurbeln für den Handbetrieb, mit Bändern aus Gummi, die über Holzräder alle möglichen Geräuscherzeuger in Bewegung setzen - diese komischen transparenten Drahtmonster wirken noch immer leicht, frech und lebendig. Daß sie als Einspruch gegen die biedere Sentimentalität eines verlogenen Jahrzehnts, gegen die Sissi-hafte

Frohnatur der 50er Jahre gelesen werden wollten, kann ich noch dreißig Jahre später nachvollziehen. Vielleicht war der Witz damals anders gemeint, bitter-böse, wo heute Verspieltes in den Vordergrund tritt; aber die biegsame Gegen-Welt aus Draht hat ihren Reiz nicht verloren.

Woran liegt das? Sollte der kunstgeschichtliche Rückblick ein Ausblick auf die Zukunft sein? Oder ist hier nur die gefräßige Kunstszene am Werk, die die Gebilde, die ihr einst durch die Maschen geschlüpft sind, jetzt mit neuer Aura versieht und mangels anderer Perspektiven die wiederentdeckten ästhetischen Revolten aus den 50ern als Zukunft verkaufen will?

Nein, es soll in diesen Tagen nicht geschimpft werden. Der Rezensent hat mitten im Weihnachtsrummel eine anregende Ausstellung gesehen. Leider erst am letzten Tag, wofür er sich bei Harry Kramer mit diesem „Nachruf“ entschuldigt.

hans happel