Humanitäre Flüchtlingspolitik auf türkisch

Die Regierung Özal hält seit Monaten in ostanatolischen Lagern Zehntausende Kurden, die vor den Giftgasangriffen der irakischen Armee in die Türkei geflüchtet sind, hinter Stacheldraht fest / Hunger und Epidemien fordern unter den Kindern viele Opfer / Hilfsaktionen der einheimischen Bevölkerung werden verhindert  ■  Von Ömer Erzeren

Eine Tankstelle an der Landstraße kurz vor der ostanatolischen Stadt Mus. Ich blicke auf Frauen, die in der eisigen Kälte darauf warten, ihre mitgeführten Blechkanister an der Wasserquelle zu füllen. Dutzende Kinder spielen im Schlamm um das Wasser, das von der Tankstelle aus mit einem Schlauch 30 Meter weiter gepumpt wird. Der Durchgang zu den Frauen und den Kindern ist mir versperrt. Brandneu installierter Stacheldraht umzäunt hier 8.400 Menschen: Kurdische Flüchtlinge, aus dem Nordirak, die vor den Giftgasangriffen der irakischen Armee in die Türkei flüchteten. 1.200 Männer, 1.200 Frauen und 6.000 Kinder wurden aus den Zeltlagern im irakisch-türkischen Grenzgebiet weiter ins Landesinnere transportiert. Seit zwei Monaten schon leben sie in diesem Internierungslager, das von Uniformierten scharf bewacht wird. Kaum jemand hat Zugang zu dem Lager, und im nahegelegenen Mus berichteten Bauarbeiter, die das Lager betreten konnten, von Epidemien und Hunger; auch von sterbenden Kindern ist die Rede.

Zu den wenigen, die das Lager Mus besuchen konnten, gehört Emin Atala, der im Auftrag der türkischen Architektenkammer ein Gutachten über die 440 einstöckigen Häuser erstellte, in denen die kurdischen Flüchtlinge wohnen. „Für Menschen unbewohnbar“ ist das Fazit der Architektenkammer, die darauf hinweist, daß bereits die Universität Diyarbakir und die Technische Universität Ankara gleichlautende Urteile abgegeben haben. „In den 60-Quadratmeter-Häusern, die nicht mal über eine Toilette verfügen, wohnen 25 bis 30 Personen. Es ist zu befürchten, das in diesem Siedlungsgebiet, deren Bevölkerung zu zwei Dritteln aus Kindern besteht, demnächst ansteckende Krankheiten grassieren.“ Bedenklich sei ebenfalls, daß die Häuser auf sumpfigem Grund errichtet wurden. „Aufgrund der Bauweise werden die Häuser den starken Schneefällen in der Region nicht standhalten und einstürzen.“

Anderer Auffassung als die Architekten ist der Gouverneur von Mus, Yazar. „Glauben Sie mir, diesen Leuten geht es gut. Im Lager ist es wärmer als bei mir“, erzählt der Gouverneur in seinem wohltemperierten Dienstzimmer. In flüssiger Rede operiert er mit Zahlenkolonnen: „Wir haben ein Straßennetz von 32 Kilometern, ein Elektrizitätsnetz von 11, ein Trinkwassernetz von 7 Kilometern gebaut. Wir haben diese Leute mit fließendem Warmwasser versorgt.“ Erst als ich ihn auf den Stacheldraht hinweise, stockt sein Redefluß: „Ich habe Ihre Frage nicht verstanden.“ Sein Vorgesetzter Hayri Kozakcioglu, Regionalgouverneur der Provinzen unter Ausnahmerecht - so sein vielsagender Titel - blieb dem Korrespondenten der türkischen Tageszeitung 'Cumhuriyet‘ die Antwort auf selbige Frage nicht schuldig: „Der Stacheldraht dient der Abwehr von Provokateuren.“ Eine Besuchsgenehmigung wird verweigert. Übrigens haben die vorgetragenen Zahlenkolonnen auch ihr Gutes. Läßt sich doch ausrechnen, wieviel Quadratmeter Raum einer Person zusteht: Es sind 1,5 Quadratmeter. Totale Isolation

Auf dem Zentralfriedhof von Mus finden sich Gräber, die keine Grabinschriften aufweisen. Erdhaufen, deren beiden Enden durch Steine markiert sind - 30, 40 Zentimeter lang. Der Friedhofswärter zeigt auf die namenlosen Kindergräber. „Die sterben wie die Fliegen. Gestern kam wieder der Trupp der Stadtverwaltung und hat dieses Baby beerdigt. Die werden in Leichentücher gehüllt und in der Erde verscharrt. Arme, elende Leute. Nie sind Familienangehörige dabei.“ Seit der Ankunft der kurdischen Flüchtlinge gibt es mehr Arbeit in Mus. Wenige Tage später werde ich in einer türkischen Zeitung lesen, daß sich die Situation verändert hat: Die Toten werden nunmehr im Lager in der Erde verscharrt.

Hinweise zu den Lebensbedingungen im Flüchtlingslager finden sich auch in den Apotheken in Mus, wo Uniformierte für die Lagerinsassen Medikamente kaufen: Stapelweise Rechnungen für Medikamente, die ins Lager geliefert wurden. Rifocin, Bactrim, Alfasilin, Atrasol, Amoxyna, Kemoprin hauptsächlich Medikamente gegen Augen- und Ohreninfektionen, hervorgerufen durch mangelnden Schutz vor Kälte, die insbesondere die Kinder trifft. „Dieses Lager ist ein Gefängnis. Sie haben dort unsere Brüder eingesperrt“, sagt der kurdische Ladenbesitzer in Mus. Nicht mal den Flüchtlingen, die Verwandte in der Türkei haben, wird erlaubt, bei ihnen zu wohnen oder sie zu besuchen. Die totale Isolation der Flüchtlinge von der einheimischen (kurdischen) Bevölkerung ist von oben verordnet. Es bleibt nicht nur bei der Kontaktsperre. Auch Informationen über Kranke, die an den Folgen des irakischen Giftgaseinsatzes leiden, werden unterdrückt. Bis heute leugnet die Türkei, daß sich unter den kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak auch Opfer von Einsätzen mit Chemiewaffen befinden.

„Die Heimstätten der Türken sind Orte der Gesundheit, der Hygiene und moderner Kultur“, postuliert eine Inschrift, die im Flur des staatlichen Krankenhauses Mus gegenüber dem Zimmer des Chefarztes hängt. Der Chefarzt will von Chemiewaffenopfern nichts hören. Die gesundheitliche Versorgung der Flüchtlinge sei perfekt organisiert, eine Krankenstation sei im Lager errichtet worden. Nur noch zwei Kinder aus dem Lager seien in stationärer Behandlung - keine schweren Fälle, unwesentliche grippale Infekte. Wir rauchen von seinen Marlboros, die er mir immer wieder anbietet. Todesursache:

„Nierenversagen“

Per Zufall gerate ich in ein Krankenzimmer, wo drei kurdische Patienten liegen, die der Chefarzt mir verschwiegen hat. Mohammad Hüseyins Haut ist schwarzgebrannt, an Kopfhaut und Körper hat er rote Hautausschläge. „Es juckt, und immer wieder entzündet es sich von neuem.“ Mohammad Hüseyin hat als Peschmergha (kurdische Guerilla - „Männer, die den Tod nicht fürchten“) Barzanis in den Metina-Bergen gekämpft. Wie viele andere Flüchtlinge zuvor, erzählt er von dem grausamen Nebel, den die Bomber auf sie warfen; daß ihnen nichts anderes übrig blieb, als vor dem gelben Tod zu fliehen. In der Türkei hat er im Zeltlager an der Grenze - Allah ist groß - seine Frau und seine sieben Kinder, die auch geflüchtet waren, wiedergesehen. Ihr Dorf im Nordirak gibt es nicht mehr.

Mohammed Hüseyin ist einer derjenigen, die mit ihrem Körper von dem Massaker der irakischen Armee Zeugnis ablegen und „offiziell“ nicht existieren dürfen. So ist es ein offenes Geheimnis, daß der Peschmergha Mohammed Abu Bekir am 10.November in der Universitätsklinik Diyarbakir an den Folgen von C-Gas starb. „Nierenversagen“ steht im Totenschein. Die näheren Umstände des „Nierenversagens“ werden unter Verschluß gehalten.

Das Lager in Mus ist eines der drei zentralen Lager in denen die kurdischen Flüchtlinge aus dem Irak, die bislang in Notzelten an der Grenze untergebracht waren, den Winter überstehen sollen. Nach Schätzungen türkischer Medien waren Anfang September 100.000 Flüchtlinge aus dem Nordirak in die Türkei geflüchtet. Viele sind in den Iran abgeschoben worden oder gingen freiwillig. Nur etwa die Hälfte, 50.000 Personen, sind heute noch in der Türkei, in Mus, Mardin und Diyarbakir.

Die provisorischen Zeltlager in Diyarbakir werden aufgelöst und die Flüchtlinge wenige Kilometer vom Zeltlager entfernt in eine leerstehende Siedlung gebracht, die ehemals für Erdbebenopfer gedacht war. Lkws werden mit Flüchtlingen beladen und fahren sie vom Zeltlager in die neue Siedlung, wo die Umzäunungsarbeiten mit Stacheldraht im Gegensatz zu Mus noch nicht beendet sind. Die Bauten in Diyarbakir bieten vor dem einbrechenden Winter mehr Schutz als die Zeltlager. Zuweilen sieht man noch Flüchtlinge in der Stadt beim Einkaufen - eine Praxis, die nicht erlaubt, aber in Diyarbakir gang und gäbe war. Damit wird jetzt Schluß sein. Auch in Diyarbakir wird mit der neuen Siedlung die Separation von der einheimischen Bevölkerung endgültig besiegelt werden. An die Anerkennung des Flüchtlingsstatus wird nicht gedacht. „Irakische Staatsbürger, die kollektiv die Grenze überschritten haben“ - so die offizielle Terminologie aus dem Munde des Regionalgouverneurs Kazakcioglu. „Die betreffenden irakischen Bürger sind entsprechend der großzügigen Eigenschaften unserer hohen Nation: Gastfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft, in menschlicher Weise in unser Land aufgenommen worden. Wir sehen es nicht als eine Frage, die politisch gelöst werden muß.“ So der türkische Innenminister Mustafa Kalemli im Gespräch mit der taz. Hilfsmaßnahmen

behördlich verboten

Daß es den kurdischen Flüchtlingen in Diyarbakir besser ergeht als in Mus, ist vor allen Dingen Folge der politischen Solidarität in der Stadt. Verbände wie die Ärztekammer, die Ingenieurkammer, der Apotheker- und Einzelhandelsverband forderten sofortige Hilfsmaßnahmen. Lange Zeit wurde es den Verbänden verboten, zu Spenden für die Flüchtlinge aufzurufen. Man fürchtete, daß unter dem Vorwand von Spendensammlungen „separatistische kurdische“ Propaganda betrieben werden könnte. Der Rechtsanwalt Mustafa Özer gehört zum Initiatorenkreis der mißtrauisch beäugten Spendenbewegung. Während einer Sitzung von Vertretern der Berufsverbände auf Einladung der Stadtverwaltung forderte er den Flüchtlingsstatus für die irakischen Kurden. Niemand habe das Recht, Südostanatolien „in ein Zuchthaus mit weitläufigem Innenhof“ zu verwandeln. Der Staatsanwalt hat mittlerweile wegen dieser Rede ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eingeleitet.

In den Straßen der Stadt ist der schwelende Konflikt zwischen Bevölkerung und Verwaltung allgegenwärtig. Die Euphorie der Regierung Özal, daß mit der Aufnahme der kurdischen Flüchtlinge aus dem Irak den westlichen Verbündeten endgültig der humanitäre und demokratische Charakter des Regimes klar sein müsse, ist verflogen. „Wir haben verfügt, daß diese Menschen, die vor dem Tod fliehen, über die Grenzen eingelassen werden. Dies zeigt, wie sehr die Türkei die Menschenrechte respektiert und humanitäre Hilfe leistet. Die Türkei wird diese Aktion als Beispiel darstellen, gegenüber den ungerechten, unbegründeten Vorwürfen in der westlichen Welt“, sprach Özal publikumsträchtig noch am 2.September.

Worte, die angesichts der systematischen Internierung der verbliebenen Flüchtlinge zynisch anmuten.