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Last und Lust im All-Alltag

Ein Jahr lang haben die beiden sowjetischen Kosmonauten im Weltraum die Emigration von der Erde geprobt. Die taz-Belegschaft schickte ihnen herzliche Grüße und stellte ihnen einige Fragen zum Alltag in der Kapsel  ■  Von G.Lipatowa und J.Masikin

Berlin (taz/apn) - Können Feinschmecker es wagen, in den Weltraum zu starten? In Zukunftsromanen nahmen Kosmonauten am häufigsten kleine Pillen als wichtigste Nahrungsmittel ein. Ein Paar solcher Pillen ersetzten die Tagesration. Den zeitgenössischen Wissenschaftlern ist es leider noch nicht gelungen, derart phantastische Ergebnisse zu erzielen. Die Tagesration des Kosmonauten macht ungefähr 1.300 Gramm bei einem Gehalt von mindestens 3.000 Kilokalorien aus. Das Menü zählt rund 75 Gerichte. Dazu gehören Sauerampfersuppe, Borschtsch, andere Suppen, die in besonderen Tuben verpackt sind. Den zweiten Gang bilden z.B. „Schinken“ oder „geräucherter Hackspeck“ in Form von Konserven. Es gibt auch Gebäck mit Käse, Kaffee, Tee und mehrere Sorten von Brot sowie verschiedene Fruchtsäfte. Natürlich sehnen sich Kosmonauten manchmal auch nach „irdischem“ Essen. Transportschiffe bringen zwar zwischendurch etwas Frisches wie Milcherzeugnisse, Obst, Gemüse und Grünkram. Das kommt aber nur selten vor. Die Feinschmecker werden es also in einem Dauerflug schwer haben.

Wirkt sich der Aufenthalt im Weltraum irgendwie auf die Figur aus?

Wladimir Titow nahm zwei Kilo ab, während Mussa Manarow hingegen 1,5 Kilogramm zunahm. Jedenfalls werden die beiden Kosmonauten nach ihrer Rückkehr auf die Erde ihre Garderobe nicht auswechseln müssen.

Was ist zu tun, wenn der Kosmonaut Zahnschmerzen oder Schnupfen hat? Hat er irgendwelche Arzneimittel?

Der Bordarzt Waleri Poljakow, der auf der Orbitalstation „Mir“ nach der sowjetisch-afghanischen Expedition blieb, hält seine eigene Anwesenheit für die beste Medizin. Waleri Poljakow konnte sich von der guten Gesundheit der „Ozeanen“ (Rufzeichen) selbst überzeugen, als er auf die Station kam und von ihnen umarmt wurde. Er stellte sofort fest, daß der Stütz- und Bewegungsapparat der kosmischen Alteingesessenen ganz schön stark ist. Neben der Arbeit nach dem Flugprogramm trainieren sie mit Hilfe von Laufband, Veloergometer, Gummiexpander und anderen Geräten. Außerdem müssen den Kosmonauten Blutproben im Interesse der Wissenschaft entnommen werden.

Und wie ist es um die Freizeit der Kosmonauten während des Flugs bestellt, wenn sie ein Buch lesen, sich ihrem Hobby widmen oder einen Film sehen wollen?

Von Freizeit kann leider kaum die Rede sein, nur vom „Programm zur Erholung und Wiederherstellung der Kräfte“. Zugleich ist das Problem der sensorischen Insuffizienz bei Dauerflügen heute sehr akut. Mit anderen Worten: „Ein Mangel an Umgang mit Menschen, Information und positiven Emotionen wirkt auf den Zustand der Kosmonauten ein. Wegen der Gewichtsbegrenzung dürfen nur sehr wenige Gegenstände mitgenommen werden. Hobbies fallen daher fast flach, und die Kosmonauten müssen sich einstweilen mit Videofilmen begnügen und die Dienste der Psychologen in Anspruch nehmen. Die jetzige „Mir„-Besatzung hat allerdings gewisse Fortschritte gemacht. Mussa Manarow ist beispielsweise der Meinung, daß dem Gitarrespielen weder auf der Erde noch im Weltraum etwas im Wege steht. Daher begann er mit Konzerten in der Orbitalstation. Er spielte jedoch nicht lange solo. Jean -Loup Chretien ging bedeutend weiter. Er ist überzeugt, daß die Zurückgezogenheit im Weltraum zum Komponieren beiträgt, und nahm deshalb eine Elektroorgel mit. Es gelang ihm allerdings nicht, seine Vermutungen in der Praxis zu bestätigen, denn das Flugprogramm war zu anstrengend. Nichtsdestoweniger demonstrierte er den Journalisten per Fernsehverbindung die Möglichkeiten seines Lieblingsinstrumentes. Jean-Loup Chretien beschloß, seine Orgel in der Orbitalstation in der Hoffnung belassen, daß später doch noch ein „Kosmoskomponist“ auftaucht.

Apropos Verbindung. Die Kosmonauten machen ständig von Funksprechanlagen, telemetrischer, direkter Vidoe- und Fernsehverbindung Gebrauch. Ein automatischer Funksekretär erinnert sie rund um die Uhr daran, was sie im gegebenen Moment zu tun haben.

Kann ein Kosmonaut ohne solche Bequemlichkeiten wie Dusche, Waschbecken usw. auskommen? Natürlich nicht.

Die größte Fläche des Wohnraums nehmen der Eßraum und die „Sporthalle“ ein. Der Eßraum stellt einen besonders konstruierten Tisch mit Aufwärmern und Haltern dar, die die Gegenstände am Auseinanderfliegen hindern. Interessant sieht auch das Waschbecken aus. Das ist eine durchsichtige Sphäre mit Schlitzen für das Gesicht und die Arme. Wie die Kosmonauten sagen, stellt die rechtzeitige Entfernung von Brotkrümeln, Wassertropfen und anderen kleinen Gegenständen, die in der Station herumfliegen, ein ernsthaftes Problem dar. Ein weiteres Problem ist die rechtzeitige Entfernung von Abfällen. Es ist beispielsweise der Fall bekannt, daß bei der Ankoppelung des Moduls „Quant“ mit der Orbitalstation ein Leinensack auftauchte, der das Zusammenziehen beider kosmischer Objekte verhinderte. Um das gewundene Tuch aus dem Spalt zu entfernen, mußten Juri Romanenko und Alexander Laweikin fast vier Stunden im freien Weltraum arbeiten.

Wäsche waschen die Kosmonauten trotzdem nicht, sondern benutzen lieber Wegwerfsachen. Die Toilette sieht gewöhnlich aus. Sie stellt jedoch eine Vakuumeinrichtung dar, wo mit Hilfe von Luft alles rechtzeitig entfernt wird. In der Orbitalstation gibt es auch Blumen, insbesondere Orchideen, die mit Transportschiffen dorthin gebracht werden.

Und schließlich die Landung: Wie sähe die Entscheidung aus, wenn die Kosmonauten das Recht hätten, den Landungsort zu wählen? Hier gibt es wohl genau so viele Antworten wie es Kosmonauten gibt. Wladimir Titow und Mussa Manarow würden ihr Raumschiff in der Nähe ihres Hauses landen lassen, wo man bzw. frau auf sie bereits seit zwölf Monaten mit Ungeduld wartet. Aber alle drei hätten auch nichts dagegen, in der Bretagne, der Heimat von Chretien, in der Nähe eines guten Restaurants zu landen, und dort den Abschluß des Flugprogramms zu feiern. Die Kosmonauten sind sachliche Menschen und haben diese Variante sofort am Simulator durchgearbeitet. Gut, daß die Landung automatisch erfolgen wird und somit keine „Versuchung“ entsteht.

Ist den Kosmonauten ein solches Gefühl wie Angst bekannt? Natürlich sind sie keine „Supermänner“. Sie sind Menschen wie wir alle. Daher wohnen ihnen alle menschlichen Gefühle inne. Für Kosmonauten sind aber alle Situationen in zwei Kategorien - normale und außerordentliche - geteilt. Der Ausbildungszyklus der Kosmonauten schließt auch ein intensives Training in außerordentlichen Situationen ein. Nur die Kenntnisse, das Können und die Ausdauer sind imstande, der Ungewißheit entgegenzuwirken. Natürlich wissen die Kosmonauten von eventuellen Folgen jeglicher Überraschungen. Kann das aber den Drang des Menschen nach unerforschten Gipfeln der Wissenschaft aufhalten? Eine außerordentliche Situation entstand beispielsweise bei der Vorbereitung auf den Start des Raumschiffs zur bemannten Orbitalstation, in der sich die Kosmonauten W.Titow und A.Strekalow befanden. In den letzten Sekunden vor dem Start brannten plötzlich 300 Tonnen Kraftstoff, der Stahl schmolz. Keine Sicht. Da sprang buchstäblich in der letzten Sekunde das Rettungssystem an, das von zwei Operatoren durch Knopfdruck eingeschaltet wird. Per Fallschirm landete die Mannschaft in einer Entfernung von der durch die Havarie zerstörten Rakete. Die erste Frage, die W.Titow und A.Strekalow fast danach gleichzeitig stellten, lautete aber: „Werden wir wieder fliegen dürfen?“

Auf dem schwierigen Weg zur Weltraumerschließung kam es zum Tod von W.Komarow bei der Erprobung des Raumschiffes „Sojus -1“ sowie der Besatzung des Raumschiffes „Sojus-11“ (G.Dobrowolski, W.Wolkow und W.Pazajew) bei der Rückkehr zur Erde. Die Geschichte der sowjetischen bemannten Flüge kam ohne Opfer nicht aus. Alle Experimente zusammengenommen haben es ermöglicht, auf der Umlaufbahn verschiedene komplizierte Operationen, Reparaturarbeiten im Weltraum, den Flügen von einer Orbitalstation zu einer anderen durchzuführen, beschädigte Stationen zu retten.

Viele werden uns wohl beipflichten, wenn wir sagen, daß die Raumflüge nach wie vor alles anderes als eine Vergnügungsreise sind. Die Erschließung des Weltraums ist eine Sache kompetenter, tapferer, starker und selbstloser Menschen, die der Zukunft der Wissenschaft dienen. Das haben ein weiteres Mal die sowjetischen Kosmonauten Titow, Manarow und der französische Forscher Chretien bestätigt.

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