Um Blochs letzter Tränen willen...

■ ...wurde Hamburgs Staatsoper zum Kampfplatz: Es gab zur Vorweihnachtspremiere keinen Fideliofesttagsbraten, sondern eine Schlacht gegen Liebhaber beseelten Wohlklangs und HH Yuppies

Das augenblickliche Spielplanangebot im hiesigen Goethetheater zwingt dazu, sich anderswo nach gewichtiger Musiktheaterkost umzuschauen. Der Blick fiel wohlgefällig auf Hamburg, unsere hanseatische Schwesterstadt. Fidelio, des großen Ludwigs van wurde da neueinstudiert und unter dem Weihnachtsbaume präsentiert.

An sich sollte man Fidelio-Inszenierungen tunlichst meiden, und schon gar solche, die sich zum Feste der Liebe präsentieren. Das riecht allzu öde nach kulinarisch wohltönendem Festtagsbraten. Doch Hamburgs Staatsoper preist sich als Kampfplatz an. Gut so, um Fidelio lohnt es zu kämpfen, handelt die Oper doch von Unterdrückung und Befreiung, von Mut und Anpassung und von real gewordener Utopie, gilt es doch dies Zentralwerk der Verheißung den Karajans und sonstigen Genießern zu entreißen. Und natürlich lohnt der Kampf um des unvergleichlichen Ernst Blochs letzter Tränen willen, die er glaubwürdiger Bekundung nach anläßlich des letzten Anhörens des Trompetensignals aus der Leonorenouvertüre Nr.3 vergossen hat.

Die Strategen Ruzicka und Albrecht, Hamburgs mutige Intendanz, schickten Peter Palitzsch

(auch der 70jährige wird gerne noch als Brechtschüler bezeichnet) und Nikolaus Harnoncourt in die Schlacht gegen die Liebhaber beseelten Wohlklanges und Hamburgs Yuppies, die mittlerweile herausgefunden haben, daß der beste CD -Player doch die Live-Aufführung ist.

Doch ach, die Truppen des Fortschrittes und der musikalischen Wahrheit erlitten eine bittere Niederlage. Nur Harnoncourts heldenhafte Nachhut verhinderte ein totales Debakel. Das Schlimmste daran ist, daß nicht der Gegner zu stark war, die Gründe des Scheiterns sind in den eigenen Reihen zu suchen. Es fing so faszinierend an. Harnoncourt gab der gerne als Verlegenheitslösung abqualifizierten Ouvertüre (Leonore Nr.4) endlich das ihr gebührende Gewicht. Sie huschte nicht mit flottem Tamtaram-Pampam vorüber. Das markante Anfangsmotiv erklang aus dem Orchestergraben als Appell und Aufruf. Es trifft auf ein gelähmtes, bewußtloses Land. Zunächst ist es wirkungslos, dann, quälend langsam, nimmt das Land ihn auf, es gährt und drängt gewaltig: der Sturm bricht los. In dieser Ouvertüre, so war zu hören, steckt mehr an realer Utopie, als in dem Finale der Oper, dessen Glücksjubel doch

empfindlich durch den Süßholz raspelnden Herrn Minister, der die Befreiung gönnerhaft administriert, beeinträchtigt wird.

Quälende und erfüllte Ruhe auf der einen Seite und markante Rastlosigkeit auf der anderen bestimmen Harnoncourts musikalische Gestaltung, immer aufregend, erhellend und überraschend (letzteres zuweilen auch für die Musiker, die sich wohl nach dem Mittelweg sehnten).

Peter Palizsch's Regie greift vom musikalischen Ansatz nur den der quälenden Ruhe auf. Zunächst mit schönem Erfolg: Die bedrückende Kleinbürgeridylle des gutmütigen aber weisungsgemäß funktionierenden Kerkermeisters Rocco im 1. Bild löst Beklemmung aus. Die scheinbar harmlosen Spielopernszenen vor Blümchentapete um den Abendbrottisch drängen nach Explosion.

Doch es explodiert nichts. Den ganzen gewaltigen Rest der Oper erstickt die Regie in der Zelebrierung von Symbolischem.

Reichlich und überdeutlich sind die Zeichen und Bilder, die zeigen, daß hier und heute gerade kein beliebig konsumierbare Werk der Tonkunst über die Bühne geht, doch sie bleiben ohne Bühnenrealität und sind auch noch kontraproduktiv. Den Ge

fängnishof des 1. Aktes dominieren eine Bahnrampe und ein mächtiges Säulenportal. Auschwitz und Justizpalast oder Reichskanzlei o.ä.. Doch das Gleis wird zum ernstzunehmenden Hindernis für Fidelio, wenn sie vom Strahle der Hoffnung singt. Neben den exaltierten Melodiesprüngen, die diese Arie für alle Beteiligten zur Angstpartie machen, darf Fidelio/Leonore das Gleis abschreiten. Hoffnungstrunken in den 4. Rang blicken und gleichzeitig nicht über Bahnschwellen stolpern, geht aber schlecht.

Der Gefangenenchor, reichlich zombiehaft ausgestattet das Sonnenlicht der Freiheit besingend, himmelt die im Neonlicht erstrahlende Reichskanzlei oder was auch immer an. Beim Gefangenenchor soll uns auch deutlich gemacht werden, daß die chorsingenden Massen nicht nur Hintergrund für das ergreifende Schicksal des prominenten Gefangenen Florestan sind. Da letzterer als der Gekreuzigte kenntlich gemacht wird, schleichen erstere ebenso mit klassischem Lendenschurz herum. Da fällt es schwer, nicht albern zu werden und das, was stimmt an dieser Inszenierung, noch wahrzunehmen. Daß sich Palitzsch beim Finale nicht recht

entscheiden konnte, ob er das „unaussprechlich süße Glück“ (das Harnouncourt zur nie vergehenden süßen Unendlichkeit macht) inszenieren solle, oder nicht doch lieber das Dreigroschenoper-Finale, versteht sich fast von selbst. Der sich im Bühnenhintergrund spannende Farbenbogen, der hell aus dunklen Wolken bricht, beißt sich unerquicklich mit dem grell aufgedonnerten Herrn Minister, den auch noch der Blondschopf des Schlagerstars und Heldentenors Peter Hoffmann schmückte.

Das Stichwort Heldentenor ruft zum Abschluß noch eine Stärke der Aufführung ins Gedächtnis: die Abwesenheit von stimmgewaltigen Stars. Josef Protschka gab einen melancholisch leidenden, zarten Florestan, Ana Pusar eine schlanke jugendliche Leonore, Matti Salinen einen energischen Kerkermeister.

Der Schluß der Veranstaltung füllte denn auch mein Herz mit ungetrübter Freude. Kräftige Buhrufe von den besseren Plätzen für den Dirigenten und die unglückliche Leonore zeigten mir, daß die Hamburger ihren Fideliofesttagsbraten, den sie wollten, nicht bekommen haben, und das ist immerhin auch ein schönes Ergebnis.

Mario Nitsche