Ökologischer Imperialismus

■ Pocken, Rinder und Klee: der Blick eines Biologen auf den mörderischen Erfolg des europäischen Imperialismus

Karl-Dieter Hoffmann

Alfred Crosbys Monographie gehört zu jener besonderen Gattung von Büchern, denen es mittels der Wahl einer ungewöhnlichen und originellen Perspektive gelingt, eine eigentlich längst bekannte Geschichte auf faszinierende Weise neu zu erzählen. Sein Thema ist die Erfolgsgeschichte der europäischen Kolonialexpansion vom 10. bis 19.Jahrhundert. Während das wissenschaftliche Interesse sich gemeinhin auf den Ablauf und die Charakteristika der europäischen Überseemigration konzentriert, ohne den Grundtatbestand des historischen Phänomens weiter zu problematisieren, tut Crosby genau dies, wenn er nach den Voraussetzungen und Bedingungen des Gelingens dieses einzigartigen demographischen Prozesses fragt.

Der außergewöhnliche und deshalb erklärungsbedürftige Erfolg des Vorgangs liegt nach Auffassung des an der University of Texas in Austin lehrenden Verfassers in dem Faktum begründet, daß europäische Emigranten und ihre Nachkommen heute über die ganze Welt verteilt sind und es allein dem europäischen Teil der menschlichen Spezies gelang, sich in Übersee so dominant und wirkungsvoll zu etablieren: neben den europäischen Kernräumen bilden die Abkömmlinge der Migranten aus der Alten Welt seit vielen Jahrzehnten die große Mehrheit der Bevölkerung in Australien, Neuseeland, Nordamerika sowie in weiten Teilen des südlichen Südamerika (Südbrasilien, Uruguay, Argentinien). Diese Gebiete bezeichnet Crosby als „Neu -Europas“.

Bei der Erklärung der europäischen Überseeexpansion, die über viele Jahrhunderte nur sehr langsam verlief, um im Zeitraum 1820-1930 mit ca. 50 Millionen Auswanderern ihren größten Aufschwung zu erleben, lenkt der Autor den Blick über die weitgehend bekannten, endogenen push-Faktoren (Bevölkerungsexplosion, Landknappheit, Verfolgung von Minderheiten etc.) und die einer Migration förderlichen technischen Entwicklungen des 19.Jahrhunderts (v.a. schnellere, sicherere und billigere Transportmöglichkeiten) vorrangig auf die in den fernen Siedlungsräumen vorhandenen pull-Faktoren, deren gemeinsames Merkmal er als bio -genetisch kennzeichnet: Die Neu-Europas liegen zwar geographisch verstreut auf dem Erdball, befinden sich aber weitgehend auf denselben Breitengraden bzw. in vergleichbaren Klimazonen wie die Heimatländer der Auswanderer und mithin in Regionen, in denen die traditionellen europäischen Nutztiere und -pflanzen gute Bedingungen vorfanden. Andererseits beheimateten die in Besitz genommenen Gebiete jeweils eine eigene, von den europäischen Gegebenheiten deutlich unterschiedene Pflanzen und Tierwelt sowie zumeist auch autochthone Kulturen, deren Zurückdrängung zur wesentlichen Voraussetzung des Erfolgs der importierten europäischen Zivilisation wurde.

Mit der Bevorzugung der temperierten Klimazonen verfolgten die Einwanderer aus der Alten Welt das Ziel, ihre gewohnte Lebensweise unter besseren Bedingungen fortzuführen, was den Import ihrer eigenen Art von Landwirtschaft (mit den zentralen Elementen Getreideanbau und Vieh-, vor allem Rinderzucht) implizierte, sie strebten die Sicherung eines Produktionsniveaus an, das über die Verhinderung der in ihren Ursprungsländern periodisch erfahrenen Mangelsituation hinaus den stetigen Handel mit in Europa benötigten Agrargütern gestattete.

Nur auf den ersten Blick erscheint es verwunderlich, daß der Autor seinen geschichtlichen Rückblick nicht bei den spektakulären Fahrten eines Leif Eriksson oder Magellan ansetzt, sondern in der Endphase der Existenz des legendären Urkontinents PANGAEA, in dem bis vor ca. 180 Millionen Jahren die heutigen Kontinente in einer riesigen Landmasse vereinigt waren. Die Flora und Fauna von PANGAEA wies allein eine entlang dem Spektrum der Klimazonen differenzierte Vielfalt auf. Diese Einheit in der Vielfalt ging zu Ende, als der Urkontinent infolge der Plattentektonik auseinanderbrach und die allmählich abdriftenden Bruchstücke zu geographisch isolierten Räumen wurden, in denen fortan die Evolution jeweils eigene Formen annahm, deren Ergebnis der für jeden Kontinent charakteristische Artenreichtum darstellt. Die seither getrennt verlaufende ökologische Entwicklung der Kontinente, die nur im Falle Eurasiens und Amerikas durch die zeitweise Passierbarkeit der Beringstraße und den dadurch ermöglichten Austausch von Lebensformen unterbrochen wurde, konnte erst durch den gegenläufigen Trend der in der Frühen Neuzeit einsetzenden systematischen Überseeexpansion gestoppt werden.

Mit der Inbesitznahme der Azoren, Madeiras und der Kanarischen Inseln begann im 15.Jahrhundert der atlantische Imperialismus der iberischen Königreiche. Die Azoren und Madeira waren unbewohnt und wurden von den Portugiesen in bezug auf Nutzpflanzen und Viehzucht alsbald europäisiert. Während die weitere Bedeutung der Azoren weniger ökonomisch als durch die günstige verkehrsmäßige Lage des Archipels bestimmt werden sollte, bot Madeira ideale Bedingungen für den Zuckerrohranbau, der angesichts der guten Absatzmöglichkeiten in Europa nach kurzer Zeit die Inselwirtschaft völlig dominierte. Die Spanier konnten die Kanaren nicht einfach in Besitz nehmen, sondern mußten sie gegen den erbitterten Widerstand der dort lebenden Stämme der (wahrscheinlich mit den Berbern verwandten) Guanches erobern. Bei ihren zahlreichen und äußerst blutigen Kriegszügen kam ihnen schließlich eine aus Europa eingeschleppte Seuche - vermutlich Typhus - zu Hilfe, die mit dazu beitrug, daß kein Eingeborener das 16.Jahrhundert überlebte.

Bevor die Ozeane systematisch und relativ sicher überquert werden konnten, mußten eine Reihe von technischen Voraussetzungen erfüllt sein. Daher bildeten einige fundamentale Neuerungen und Verbesserungen in der Schiffsbau - und Navigationstechnik die wesentliche Voraussetzung der spektakulären Entdeckungsfahrten des 16.Jahrhunderts. Die iberischen Karavellen wurden gleichsam zum Prototyp eines hochseetüchtigen Schiffes; sie waren größer, widerstandsfähiger, komfortabler und manövrierfähiger als ihre Vorgänger. Von den Chinesen übernahm man den Kompaß, von den Moslems das Lateesegel, mit dem man auch gegen den Wind fahren konnte; Bordkanonen und verbesserte transportable Waffen erhöhten das Droh- und Verteidigungspotential von Schiff und Mannschaft. Der Wind als damals einzig mögliche Energiequelle für weite Seereisen blieb lange Zeit ein Problem. Nicht, daß man seine Kraft nicht zu nutzen verstand, nur mußte man die besonderen Windverhältnisse auf den einzelnen Weltmeeren und zu den verschiedenen Jahreszeiten genau kennen, ehe man dieses Potential effektiv ausschöpfen konnte. Vor der Eroberung ferner Kontinente stand so die Eroberung der Ozeane - die opferträchtige Enthüllung der Geheimnisse der Hochseewinde und Meeresströmungen. Nach diesem Durchbruch ging alles sehr rasch: 80 Jahre nach der Weltumsegelung Magellans war es auch Privatpersonen möglich, Plätze auf Handelsschiffen nach Übersee zu buchen. Wiewohl durch die technischen Verbesserungen viele Teile des Globus in die Reichweite der imperialistischen Mächte gelangten, konzentrierten sich diese von Anfang an auf die gemäßigten Zonen und mieden Regionen mit extremen Klimaverhältnissen, die zahlreiche Gesundheitsrisiken bargen und eine landwirtschaftliche Tätigkeit nach europäischem Vorbild nicht zuliessen.

Nicht nur die europäischen Nutzpflanzen, auch die in der Regel unfreiwillig aus der Alten Welt eingeführten Unkräuter fanden in den Neu-Europas sehr günstige Wachstumsbedingungen. Unkräuter sind aggressive und opportunistische Gewächse, die sich rasch ausbreiten, auf brachliegenden Flächen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Pflanzen besitzen und auf die Eroberung ökologisch destabilisierter Böden spezialisiert sind.

Schon Mitte des 16.Jahrhunderts war der europäische Klee in Zentralmexiko so weit verbreitet, daß die Azteken dafür ein eigenes Wort kreiert hatten, und schon um 1600 entsprach die Unkrautflora der Region weitgehend der heute gegebenen Situation - mehrheitlich eurasische Arten mit einem Übergewicht an mediterranen Gewächsen. In Kalifornien, einem wegen der Hauptrichtung der nordamerikanischen Besiedlung lange Zeit relativ isolierten Gebiet, begann die Ausbreitung eurasischer Unkräuter erst im Zusammenhang mit dem Goldrausch zur Mitte des 19.Jahrhunderts, nachdem die zur Versorgung einer rasch expandierenden Bevölkerung ständig vergrößerten Rinderherden die ursprüngliche Bewachsung der Weidegebiete abgefressen hatten. Hier sorgten die opportunistischen Invasoren nicht nur rasch für neues Futter, sondern versahen die strapazierten Böden auch mit einem wirksamen Erosionsschutz. Wo im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts erst drei europäische Pflanzen anzutreffen waren, hatten sich bis 1860 mindestens deren 90 angesiedelt. Auch östlich des Mississippi wurden nach der Verbreitung von Rindern, Schafen und Ziegen die einheimischen Gräser binnen kurzer Zeit durch eurasische Arten verdrängt. 1832 stellte ein Botaniker fest, daß es sich bei den aggressivsten Pflanzen in den nördlichen Staaten der USA um Gewächse fremdländischer Herkunft handelte, von denen er insgesamt 137 verschiedene auflisten konnte. 60 Prozent der in kanadischen Farmregionen am häufigsten anzutreffenden Unkräuter waren europäischen Ursprungs.

Nirgendwo in Amerika war die Veränderung der Vegetation so auffällig wie in der argentinischen Pampa, und auch dort betätigten sich Nutztiere europäischer Provenienz als wichtigster ökologischer Wandlungsträger - das Vieh reduzierte die alteingessesenen Pflanzen durch Abweidung und Zerstörung, schuf damit Raum für die fremden Arten und fungierte über weiteste Entfernungen als Transporteur von „imperialistischen“ Pflanzensamen. Disteln, Klee, Malven und wilde Artischocken zählten alsbald zu den verbreitesten eurasischen Wildgewächsen der Pampa, deren Übermacht so stark wurde, daß sie die heimischen Unkräuter bis zu Beginn des 20.Jahrhunderts auf ein Viertel des Artenbestands zurückgedrängt hatten. Ähnlich durchschlagend war der Effekt der unfreiwilligen Unkrauteinfuhr in Australien, wo über 800 naturalisierte Fremdgewächse identifiziert wurden, von denen die übergroße Mehrheit aus Europa stammte.

Erstaunen erregt die Tatsache, daß es im Gegensatz zum Triumph der eurasischen Unkräuter in den Neu-Europas nur ganz wenigen Wildpflanzen aus den überseeischen Gebieten gelang, sich in der alten Welt anzusiedeln. Daß es zu dieser biologischen Einbahnstraße kommen konnte, obwohl ein umgekehrter Samentransfer sehr wohl stattfand, erklärt der Autor mit dem unterschiedlichen Zustand der zeitgenössischen ökosysteme: Während die überseeischen Samen in den kolonialen Mutterländern einen weitgehend intakten Ökohaushalt vorfanden, in den einzudringen quasi unmöglich war, trafen die eurasischen Unkräuter in den Neu-Europas auf ein Ökosystem im Umbruch, das sich den landwirtschaftlichen Ambitionen der Kolonisten und den indirekten Folgen ihrer Eingriffe zu beugen hatte.

Alfred W. Crosby, Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe 900-1900, Cambridge University Press, London/New York 1987, 368 Seiten, 30 Pfund, Paperback 12.