Perestroika des Einparteiensystems?

■ Ungarn diskutiert über die Zulassung von Parteien / Organisationsfrage wird in ganz Osteuropa gestellt

Noch ist nicht entschieden, ob die ungarische Kommunistische Partei es tatsächlich riskieren wird, sich in eine echte Konkurrenz zu anderen Parteien zu begeben - letztendlich mit der Konsequenz, auch abgewählt werden zu können. Doch der Trend ist in weiten Teilen Osteuropas unübersehbar: die Forderung nach gesellschaftlichem Plu ralismus wird auch vor der Einheitspartei nicht halt machen. Vorerst geht es hauptsächlich um Gruppierungen auf der Ebene von Vereinen oder Diskussionszirkeln - aber das Tabu ist geknackt.

Zu den geistigen Sperrgebieten in allen osteuropäischen Staaten gehörte bisher die Diskussion über eine Rückkehr zum Mehrparteiensystem. In Ungarn, dem Land der weitestgehenden wirtschaftlichen Reformen, ist in diesem Jahr auch das gesellschaftliche Leben am heftigsten in Bewegung geraten. Zuerst bekamen die offiziellen Staatsgewerkschaften durch die Gründung von vier unabhängigen Lehrer- und Wissenschaftlergewerkschaften Konkurrenz.

In diesen Tagen befaßt sich nun das ungarische Parlament mit einem Vereinsgesetz, das prinzipiell die Gründung neuer politischer Parteien ermöglicht. Ob es dann bei Wahlen zu einer wirklichen Konkurrenz zwischen den Neugründungen und der kommunistischen Partei kommen kann, bleibt offen. Eine genaue Regelung wird in einem neuen Parteiengesetz erfolgen, das spätestens 1990 in Kraft tritt. Fest steht nur, Parteien, die das sozialistische System in Frage stellen, bleiben wohl ausgeschlossen.

Für die zahlreichen politischen Vereinigungen in Ungarn ist die Verabschiedung der jetzigen Gesetzesvorlage dennoch eine Existenzfrage. Sie gibt ihnen das Recht, öffentliche Veranstaltungen - auch unter freiem Himmel - abzuhalten und sich eine Infrastruktur aufzubauen.

Die Partei hat gedacht, daß sich nach den Kundgebungen im Frühjahr die Lage wieder beruhigen wird“, erzählt Laszlo Miklosi. Er ist 26, Mittelschullehrer, Mitbegründer der unabhängigen Lehrergewerkschaft und Mitglied des grünen Nagymaros-Komitees, das den Bau des gigantischen Donaukraftwerkes verhindern will. Doch nach den großen Demonstrationen gegen dieses Stauwerk im Mai folgte die noch viel größere Kundgebung gegen die rumänische Dorfzerstörungspolitik. Und es folgte die Gründung von mittlerweile unzähligen Verbänden und Komitees.

„Wir Ungarn haben endlich entdeckt, daß wir unsere Meinung sagen können“, meint Miklosi. - Er gehört auch zu den Aktivisten des Jurta-Theaters. Das „Jurta“, wie die Budapester es einfach nennen, ist in seiner Art einmalig. Es wurde vor drei Jahren als genossenschaftliche Privatinitiative gegründet. Rund 30 Prozent seines Programms sind Theaterinszenierungen, der Rest gesellschaftliche und politische Veranstaltungen. Maximal bietet das Haus Platz für 1.000 Menschen. Rund hundert, meist jüngere Leute haben an diesem verregneten Freitag abend den Weg hierher gefunden. Das Ziel des heutigen Abends ist die Ausarbeitung eines wirtschaftspolitischen Grundsatzpapiers für den unabhängigen demokratischen Jugendverband FIDESZ.

Als Vorbild eines marktwirtschaftlich orientierten Staates wird hier heute immer wieder Schweden genannt. Den FIDESZ gibt es seit Ende März. Seit Oktober wird der junge alternative Verband in der Presse durchaus positiv erwähnt. Wie bei den anderen Gruppierungen auch war die Rechtmäßigkeit dieses Verbandes mit seinen 2.000 Mitgliedern bisher nicht klar. Die Verfassung garantierte nur eine abstrakte Versammlungsfreiheit.

Neben FIDESZ zählt das Demokratische Forum (MDF) zu den wichtigsten neu entstandenen Gruppen. „Wir zählen uns aber nicht zur Opposition“, erzählt Csaba Gy. Kiss, Literaturhistoriker und Mitglied des Präsidiums. „Das MDF wollte freidenkenden Leuten aus der ungarischen Intelligenz eine Möglichkeit bieten, verschiedene Meinungen über Politik und Gesellschaft auch frei auszusprechen.“

Seither veranstaltete das Forum verschiedene Tagungen und Podiumsdiskussionen. Heute hat es bereits über 400 lokale Gruppen im ganzen Land. „Wir sind breiter als eine Partei, weil bei uns vom liberalen bis zum eurokommunistischen Gedankengut vieles Platz hat. Und gleichzeitig sind unsere Ziele enger als diejenigen einer Partei, weil wir nicht die Regierungsmacht anstreben.“ Ins Parlament aber will das Forum bei den nächsten Wahlen - voraussichtlich 1990 - auf jeden Fall.

Um einiges radikaler als das Forum ist der Bund Freier Demokraten (Szabad Demkratak Szövetsege, SZDSZ). Sein Sprecher und Mitbegründer Ferenc Köszeg ist ein altgedienter Oppositioneller. Er ist der Grand Old Man des Demokratischen Widerstandes in Ungarn. „Im Westen würde man den Bund Freier Demokraten als eine Mitte-links-Koalition mit einigen grünen Grundsätzen bezeichnen.“ Vielleicht werde aus dem SZDSZ eine Partei, vielleicht aber auch mehrere, erzählt Köszeg. Während all der vielen Diskussionen um den Status der Gruppen und das zukünftige Parteienstatut tauchte plötzlich eine richtige Partei auf: die „Kleinlandwirtepartei“. „Unsere Partei wurde nicht neu gegründet, sie existiert seit 1930“, berichtet der Pressesprecher. Verboten oder ordnungsgemäß aufgelöst wurde sie nie - doch in der stalinistischen Ära wurden ihre Aktivitäten erstickt. Die alte Garde aus der Nachkriegszeit ist heute wieder dabei. Aber die Basis aber hat sich wesentlich verjüngt. An die Macht gelangen will man nicht unbedingt: „Die Kommunistische Partei soll ersteinmal den Karren selber aus dem Dreck ziehen.“

UdSSR

„Die Perestroika hat die Flasche aufgemacht, aber der Geist der Volksinitiativen kam nicht gleich heraus, so tief hatte man ihn hineingestopft.“ Meint der Moskauer Jugendsoziologe Michail Maljutin. Wenn seine Beobachtung inzwischen auch eher für Rußland selbst als für die Sowjetrepubliken an den Grenzen zutrifft, so ist eine der Ursachen hierfür doch eine gesamtsowjetische: es mangelt an dem, was das Bürgertum in seiner Frühzeit als „Civil Society“ bezeichnete, an jenem Gewebe von Vereinen, Parteien und Interessenverbänden, die die Interessen der Einzelnen mit der gesamtstaatlichen Öffentlichkeit vermitteln könnten. Für die KPdSU ist die Forderung nach einem Pluralismus von Parteien oder gar Gewerkschaften nach wie vor verpönt. Demonstrationen der „Demokratischen Union“ in Moskau, der einzigen informellen Gruppierung, die es zu ihrer Hauptforderung erhoben hat, mehrere Parteien zu den Sowjetwahlen zuzulassen, wurden in Moskau im Sommer brutal zerschlagen. Ihre Anhängerschaft ist zudem nicht groß. Vielen Bürgern reicht es vorerst, wenn sie sich in der außerordentlich stark differenzierten Kommunistischen Partei selbst artikulieren können, deren verschiedene Strömungen (nicht Fraktionen!) auf der Parteikonferenz im Sommer zutage traten.

Partei und Presse haben jedoch inzwischen selbst Reformen eingeleitet, die langfristig weiteren Interessenorganisationen den Weg ebnen werden. Grund hierfür ist einmal die Notwendigkeit für die Parteispitze, sich Verbündete außerhalb der traditionellen KPdSU-Bürokratie zu suchen - daher auch Gorbatschows Toleranz gegenüber den nationalen Souveränitätsforderungen der Volksfronten in Estland, Lettland und Litauen. Die baltischen Fronten, die inzwischen schon den Charakter von Massenparteien angenommen haben, vertreten die politischen und juristischen Forderungen der Perestroika und verbinden marktwirtschaftliche Modelle mit sozialstaatlichen Vorstellungen nach skandinavischem Muster. Daß an diesen Organisationen im Baltikum kein Weg mehr vorbei führt, zeigte sich in diesem Sommer in Estland, Lettland und Litauen, als ausnahmslos Volksfrontmitglieder an die Spitzen der lokalen Kommunistischen Parteien rückten.

Auf den Rückkoppelungseffekt zwischen der Partei und inoffiziellen Organisationen bauen ebenso die reaktionäre russisch-chauvinistische Gesellschaft „Pamjat“ (Gedächtnis) wie auch die „Föderation sozialistischer öffentlicher Klubs“ (FSOK), die sich im Sommer in Moskau bildete und ökologische mit linken Strömungen vereinigt. Die FSOK hat ebenso wie die Gruppe „Tribuna“ - eine Art „Republikanischer Klub“, von Moskauer Wissenschaftlern gegründet - den Kampf gegen die am 28. Juni erlassenen Gesetze aufgenommen, die das Demonstrationsrecht empfindlich einschränken und den Truppen des Innenministeriums beim Vorgehen gegen Demonstranten weitgehende Vollmachten gewähren.

In einer Grauzone zwischen offizieller Duldung und Illegalität operiert nach wie vor auch die Gruppe „Memorial“, die sich deshalb bis heute auch ausdrücklich nicht als „Gesellschaft“, sondern als „Organisationskomitee“ bezeichnet. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Memorial -Mitglieder ist die von Gorbatschow persönlich unterstützte Forderung nach einem großen Denkmal für die Opfer des Stalinismus vor Moskau. Die Gruppe, an deren Spitze renommierte Künstler und Wissenschaftler wie der Historiker Afanassjew, der Kernphysiker Sacharow und die Schriftsteller Ales Adamowitsch und Tewgenij Jewtuschenko stehen, konnte jedoch in den letzten Monaten Tausende zu Kundgebungen mobilisieren, auf denen die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Stalinismus gefordert wurde. Diesem Ziel soll unter anderem die Gründung eines Archivs dienen, in dem nicht nur die Namen der Opfer, sondern auch die Namen der Henker und Denunzianten gesammelt werden. Die Wiederherstellung der historischen Wahrheit ist - wenn man von reaktionär -nationalistischen Gruppierungen absieht - die einzige ideologische Forderung, die von den mehr oder weniger formellen liberalen, linken und grünen Gruppierungen in der Sowjetunion vorerst erhoben wird.

Polen

Anders sieht die Situation im westlichen Bruderland Polen aus. Als sich vor ziemlich genau einem Jahr der Warschauer Literaturwissenschaftler Jan Jozef Lipski mit einem Häuflein polnischer Oppositioneller und einigen Journalisten in einer Privatwohnung traf, schlug die Polizei ungewöhnlich hart zu. Ein Vertreter der Stadtverwaltung erklärte das Treffen zu einer „illegalen Versammlung“ und die Miliz nahm die Teilnehmer kurzerhand fest, ausländische Reporter eingeschlossen. Grund: In der Wohnung sollte die „Polnische Sozialistische Partei“ (PPS) wiedergegründet werden. Die aber hatte sich nach offizieller Lesart 1948 mit der „Polnischen Arbeiterpartei“ zur „Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei“ (PVAP) zusammengeschlossen, und letztere übt seither „die führende Rolle im Staat“ aus. Regierungssprecher Urban erklärte die PPS daher kurzerhand zu einer „Karikatur“. Die inzwischen vom Sejm gewählte Ombudsfrau für Bürgerrechte, die Juristin Ewa Letowska, sah dies kürzlich anders: Sie gab PPS-Gründer Lipski recht, der argumentiert, daß für die Gründung einer Partei nichts als eine konstituierende Sitzung ihrer Gründer notwendig sei. Die PVAP frage schließlich auch nicht bei der Stadtverwaltung nach, ob sie ihre Parteitage abhalten dürfe.

Auch in dem neuen Gesetz über die Gründung von Vereinen und Gesellschaften ist dies offengelassen worden. Kritiker vermuten dahinter Absicht: „Die Partei beruft sich darauf, daß sie und ihre Bündnisparteien Ausnahmen seien, die in der Verfassung ausdrücklich erwähnt sind. Für neue Parteien ist dann kein Platz, weil's ja kein Parteiengesetz für sie gibt.“

Dabei ist die PPS längst nicht die einzige Partei außerhalb der PVAP. In der polnischen Opposition ist mit der Zeit ein ganzes Parteienspektrum entstanden, meist orientiert nach der Parteienlandschaft der Vorkriegszeit: von den radikalen Pilsudski-Verehrern der „Konföderation Unabhängiges Polen“ über die „Liberal-demokratische Unabhängigkeitspartei“ bis zu den gemäßigten Nationaldemokraten um den Klub „Dziekania“ oder den „christlich-demokratischen Klub“, aus dem einmal eine Partei werden soll. Was aber alle diejenigen, die sich „Partei“ nennen, gemeinsam haben, ist, daß sie illegal sind.

Noch spielt sich die Diskussion deshalb im Halblegalen der Opposition ab, in den Räumen der neugegründeten Klubs oder eben in Privatwohnungen, denen dann ab und zu die Miliz ungebetenen Besuch abstattet.

CSSR

Wie überall in Osteuropa oszillieren gesellschaftliche Initiativen auch in der Tschechoslowakei zwischen politischen Aktionen im engeren Sinne und der Subkultur, wo sie in der scharfen Sprache kleiner Theatergruppen oder Bands ein Ventil finden. In der CSSR hat gerade auf diesem Gebiet ein großer Sprung stattgefunden. So ist es zu einer Explosion der Samisdatliteratur und -zeitschriften gekommen, die sich auch in wesentlich verbesserter technischer Qualität präsentieren. Parallel hierzu haben sich in diesem Sommer in Prag Organisationen wie die „Demokratische Friedensinitiative“ gebildet, oder die „Kinder Böhmens“, ein lockerer Zusammenschluß von Antiautoritären. Diese Gruppen verfügen über ein politisches Minimalprogramm, im Gegensatz etwa zu der Bewegung „Charta 77“, der bisher in der alternativen tschechischen Öffentlichkeit ein moralisches Monopol zukam.

Die Charta als Zusammenschluß von Individuen der verschiedensten politischen Couleur beschränkt sich bewußt auf intellektuelle Appelle. Zum 40. Jahrestag der internationalen Erklärung der Menschenrechte, am 10. Dezember dieses Jahres, verhandelten die Vertreter der Charta erstmals mit den anderen unabhängigen Initiativen. Auf der Suche nach einem Kompromiß mit den Behörden fand die gemeinsame Demonstration nicht auf dem zentralen Wenzelsplatz, sondern in einem Vorort statt. Dennoch erschienen immerhin rund 3.000 Menschen, ohne daß es zu Zwischenfällen kam. Die Behörden hätten an jenem Tag „Flexibilität und Toleranz“ bewiesen, erklärten die Vertreter der Charta vorgestern der Öffentlichkeit: „Die tschechoslowakische Gesellschaft steht an einem Kreuzweg.“ Die kommenden Wochen müßten zeigen, ob diesem ersten Schritt in die richtige Richtung weitere folgen, oder ob die offiziellen Kreise zu ihrer „alten Politik der Verbote und Repressionen“ zurückkehren. Peter Haber, Barbara Kerneck, Klaus Bachman