War Jumbo-Absturz Vergeltungsschlag?

■ PanAm war gewarnt / Mindestens 273 Tote / Bekenneranruf einer Gruppe „Wächter der islamischen Revolution“ spricht von Racheakt gegen die USA

London/Frankfurt (taz/ap/dpa) - Der Mittwoch abend über Schottland abgestürzte Jumbo-Jet der Fluggesellschaft PanAm ist mit großer Wahrscheinlichkeit einem Bombenanschlag zum Opfer gefallen. Bei dem bisher schwersten Unglück in Großbritannien sind alle Passagiere und Besatzungsmitglieder der 19 Jahre alten Boeing 747 sowie mindestens fünfzehn Bewohner der schottischen Ortschaft Lockerbie, über die der Jumbo auf seinem Flug von London nach New York abgestürzt war, ums Leben gekommen. Die Maschine war vor dem Start in London von einem Zubringerflug aus Frankfurt bedient worden, aus dem 44 Passagiere nach New York umstiegen.

Augenzeugen sowie Luftverkehrexperten schlossen aus den Umständen des Absturzes, daß es an Bord der Maschine eine Explosion gegeben haben muß. Der Internationale Luftverkehrsverband (IATA) wies auf die Parallelen zwischen diesem Unglück und dem Absturz einer indischen Verkehrsmaschine gleichen Typs im Juni 1985 hin, die höchstwahrscheinlich ebenfalls durch ein Bombenattentat zerstört wurde. IATA-Sprecher David Kyd sagte, vor allem das plötzliche Abreisen des Kontaks zu dem Flugzeug, aber auch die Geschwindigkeit, mit der Flugzeug am Boden aufschlug, deuteten auf eine Explosion während des Fluges hin. Trümmer der Maschine und Leichenteile wurden in einem Umkreis von rund 20 Kilometern um die Absturzstelle gefunden.

Unter den Toten befinden sich der UN-Kommissar für Namibia, sechs amerikanische Diplomaten, die auf dem Heimweg von Beirut waren, zahlreiche in der BRD stationierte US -Soldaten, zwei Direktoren der amerikanischen VW-Tochter Volkswagen und 37 Studenten der Universität von Syracuse in New York. Gerüchte, daß ursprünglich der südafrikanische Außenminister Pik Botha geplant haben soll, mit diesem PanAm -Jumbo-Jet zu fliegen, sind vom südafrikanischen Außenministerium dementiert worden.

Gestern mittag meldete sich ein anonymer Anrufer beim Londoner Büro der Nachrichtenagentur 'ap‘ mit folgender Erklärung: „Wir, die Wächter der islamischen Revolution, haben diese heroische Hinrichtung als Rache für den Abschuß des iranischen Verkehrsflugzeugs durch Amerika vor einigen Monaten und die Anwesenheit der Scha-Familie in den USA durchgeführt.“ Gestern abend allerdings dementierte der iranische Ministerpräsident Hussein Mussawi jegliche Verwicklung seines Landes in den Absturz der Maschine. Ein Anschlag auf ein Passagierflugzeug sei „ein großes Verbrechen“, dem Iran selbst mehrfach zum Opfer gefallen sei.

Offensichtlich war die Fluggesellschaft seit Anfang Dezember gewarnt, daß an Bord eines ihrer Flugzeuge eine Bombe sein könnte. Horst Harnstein, Sicherheitsexperte auf dem Frankfurter Flughafen, erklärte gestern vor der Presse, nach entsprechenden Hinweisen hätten die Verantwortlichen die Sicherheitsvorkehrungen bei PanAm in Frankfurt verschärft. Harnstein zufolge betrafen die Hinweise „den Transport einer Bombe von Frankfurt in Richtung Vereinigte Staaten“. Es habe deutliche Hinweise dafür gegeben, daß PanAm betroffen sein könnte. Die Quelle der Informationen nannte er nicht. Bei dem iranischen Verkehrsflugzeug, das im Juli versehentlich von einem US-Schiff aus über dem Golf abgeschossen worden war, starben damals 290 Menschen. In Moskau hatte die US-Botschaft in einem Rundschreiben vom 13. Dezember vor der Gefahr eines Anschlags gegen PanAm -Flüge von Frankfurt in die USA gewarnt. Ein anonymer Anrufer habe einer diplomatischen Vertretung der USA in Europa am 5. Dezember mitgeteilt, daß in den nächsten zwei Wochen in einer Maschine dieser Gesellschaft eine Bombe hochgehen werde.

Unmittelbar nach dem Absturz über Lockerbie waren Meldungen aus britischen Geheimdienstkreisen bekanntgeworden, daß es sich, wie 'dpa‘ schreibt, „wirklich um eine Bombenexplosion gehandelt hat“, und daß der Sprengsatz in Frankfurt mit dem Gepäck für den Unglücksflug PA 103 eingeschmuggelt worden sei, möglicherweise in einem versiegelten Container, die in der Regel ungeprüft in London umgeladen werden. Gestern nachmittag ist einer der beiden Flugschreiber in Lockerbie geborgen worden, dessen Auswertung nach Angaben von Experten allerdings Tage, wenn nicht Wochen in Anspruch nehmen wird.

In stündlichen Nachrichteneinblendungen wurden die Briten in der Nacht zum Donnerstag auf allen Fernsehkanälen über den Fortgang der Bergungs- und Aufräumarbeiten informiert, ehe bei Anbruch des Tages das ganze Ausmaß der Zerstörung in dem kleinen Grenzstädtchen sichtbar wurde. Im Brand- und Kerosingestank stöberten am Donnerstag die Rettungsdienste durch die Trümmer. Sieben Häuser wurden komplett zerstört, ein Haus verschwand völlig in einem 30 Meter breiten Krater. Während das Triebwerk der Maschine in der nahe der Ortsmitte gelandet war, konnten die geschockten Bewohner Lockerbies nun erkennen, daß das Cockpit der Boeing 747 ihre etwas außerhalb gelegene Kirche nur knapp verfehlt hatte. Die Queen, Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher und der US-Botschafter in London, Charles Price, sprachen den Angehörigen der Opfer ihre Anteilnahme aus.

Die abgestürzte Boeing war bereits 1970 als einer der ersten 747-Jumbos in den Dienst der PanAm gestellt worden und hat seitdem 72.000 Flugstunden und 16.500 Starts und Landungen hinter sich gebracht. Ein PanAm-Sprecher erklärte am Donnerstag, die Maschine sei erst im vergangenen Jahr völlig überholt worden.

Rolf Paasch