„Kein Programm schafft paradiesische Zustände“

■ Interview mit Wissenschaftssenator George Turner zur Lage der Universitäten

taz: Herr Senator Turner, Ihre Hochschulpolitik hat zu soviel Unzufriedenheit geführt, daß die Studenten streiken. Die Universitäten sind in diesen Tagen in der Hand der Studenten, die bis zum Jahreswechsel mit Ihrer Billigung dort schalten und walten dürfen. Ist Ihre Funktion als verantwortlicher Hochschulsenator damit obsolet geworden?

George Turner: Das sehe ich natürlich anders. Erstens gibt es keinen Freibrief für die Studenten. Es ist ja so, daß die Situation in den einzelnen Bereichen unterschiedlich ist, und nicht überall, wo das Wort „Besetzt“ an den Fensterscheiben klebt, trifft dies auch zu. Es finden durchaus in verschiedenen Bereichen Lehrveranstaltungen statt, es gibt andere, da findet in der Tat nichts statt, aber einen Freibrief oder ähnliches habe ich nicht erklärt und kann ich auch gar nicht erklären. Es ist weiterhin kein Zweifel daran, daß die Behinderung von Lehrveranstaltungen nicht als rechtmäßig angesehen werden kann. Zu der Bemerkung, daß die Hochschulpolitik obsolet geworden sei, bin ich natürlich ebenfalls anderer Auffassung. Meines Erachtens muß man bei dieser Situation die Entwicklung der letzten 30 Jahre berücksichtigen. Die TU hatte damals 7.000 Studenten, heute sind es 30.000 Studenten.

Die Überlastsituation der Uni war aber vor der erneuten Steigerung der Studentenzahlen gegeben. Die Stellenstreichungen hat es seit 1981 gegeben. Insgesamt sind an Mitteln 90 Millionen Mark gestrichen worden, besonders beim Mittelbau. Es ist von diesen Zahlen her evident, daß die Ausbildung völlig vernachlässigt worden ist.

Zur Überlast ist zu sagen, daß sie ja stets an einem hypothetischen Numerus Clausus gemessen wird. Nun behaupte ich weiß Gott nicht, daß die Fächer, in denen ein NC herrscht, ideal ausgestattet sind, die sind ja auch bis zur Halskrause belastet. Ich habe den Universitäten immer gesagt, sie müssen überlegen, was sie wollen: Ob sie Zulassungsbeschränkungen einführen wollen, mit allen negativen Folgen, oder wenn sie dieses nicht wollen, ob sie das Risiko einer erhöhten Überlast eingehen wollen. Die Antwort war in nahezu allen Fachbereichen: Wir nehmen lieber eine Überlast. Diese Diskussion ist erst ein Jahr her.

Also, der Senator hat gewarnt, und die Universitäten haben eine untragbare Situation bewußt in Kauf genommen?

Ja, aber ich will das nicht kritisieren. Wir haben uns sehr offen darüber unterhalten, ich habe meine Meinung gesagt.

Sie meinen, hätten wir einen ordentlichen Numerus Clausus, gäbe es jetzt nicht diesen Studentenaufstand. Ist das Ihre These?

Nein, das ist nicht meine These. Das wäre zu einfach. Meine These ist, daß der Numerus Clausus, wenn er aus ideologischen Gründen abgelehnt wird, zu gefährlichen Konsequenzen führen kann. Das kann dazu führen, daß die Studenten, die Anspruch auf eine adäquate Ausbildung haben, diesen Anspruch nicht verwirklichen können, wenn ein Fach überläuft.

Wollen Sie also, daß viele Studenten aufhören beziehungsweise sich abschrecken lassen?

Ich glaube nicht, daß viele aufhören. Wir haben heute eine Massenuniversität, diese ist gewollt. Wir haben, von den Zulassungsbeschränkungen abgesehen, keine Zugangshürden eingebaut.

Es ist uns immer noch unklar, was Sie genau denken. Nach dem, was Sie bislang geschrieben haben, sind Sie auf eine Elitebildung in der Universität aus. Jetzt sagen Sie: Die Massenuniversität ist Faktum und politisch gewollt. Spricht der Senator Turner anders als ehemals der Turner der Rektorenkonferenz?

Nein. Massenuniversität ist zwar ein Faktum. Ich bin aber der Meinung, daß eine Ausbildung der Besten, besondere Möglichkeiten für die besonders Befähigten - der Begriff der „besonderen Befähigung“ ist vom Wissenschaftsrat geprägt worden -, sich damit nicht verbietet. Ich habe gesagt, daß dies am besten im System der angloamerikanischen Ausbildung geht, die wir aber hier nicht einführen können, was ich bedaure. Sie werden sich wundern: Ich bin immer ein Anhänger der Gesamthochschule gewesen, weil ich deren Grundkonzeption für richtig halte. Wenn die Fachhochschulen flächendeckend ausgebaut worden wären, die Universitäten gleichzeitig jedoch nicht in dem jetzigen Umfang, wäre man diesem System nähergewesen.

In der aktuellen Situation - die Zahlen belegen das - ist es so, daß der Mittelbau rabiat abgebaut worden ist. Der Mittelbau trägt die Ausbildung. Noch einmal: Durch die steigenden Studentenzahlen stellt sich die Ausbildungsfrage in besonderer Schärfe. Haben Sie das nicht gesehen?

Hochschullehrer haben ohne Wenn und Aber neben der Forschung auch zu lehren. Mich stört schon gewaltig, wenn ich Hochschullehrer sehe, insbesondere solche, die mal zu denen gehört haben, die bestimmte Dinge an den Universitäten mit durchgesetzt haben, daß die sich jetzt so verhalten, wie es früher andere getan haben, deren Verhaltensweisen sie kritisiert haben. Das ist leider so.

Zu deutsch: Die linken Hochschulprofessoren sind faul?

Ich beziehe das nicht auf links und rechts...

Wen meinen Sie denn dann?

Viele von denjenigen, die profititiert haben vom Ausbau der Hochschulen. Sehen Sie, genauso wie die Zahl der Studenten gewachsen ist, ist auch die Zahl der Hochschullehrer gewachsen, das kann man in Zahlen belegen. Der 30-Jahres -Rhythmus ist auch hier besonders einprägsam, weil er die alte Universität widerspiegelt bis Ende der sechziger Jahre im Vergleich zum jetzigen Zustand.

Das ist doch ein Trick mit den 30 Jahren. Vor 20 Jahren gab es schließlich die Hochschulreform, es gab eine Gegen -Reform der Hochschulausbildung, es gab, grob gesprochen, die Wendeuniversität, in der das alles wieder zurückgedreht wurde. Und Sie reden vom 30-Jahres-Rhythmus.

Nein, wir können über die anderen Stationen gerne reden, ich möchte nur die Zahlen noch nennen: Vor 30 Jahren hatten wir ca 5.000 Hochschullehrer in der Bundesrepublik, jetzt haben wir weit über 25.000. Zum Mittelbau: Ich bin in der Tat der Meinung, daß in Berlin das Verhältnis Hochschullehrer - Mittelbau nicht in Ordnung ist. Eine der Ursachen liegt darin, daß es Anfang der siebziger Jahre eine große Zahl von Überführungen von Mittelbaustellen in Hochschullehrerstellen gegeben hat. Das führte zu einer Ungleichgewichtung, und wir haben versucht, das zu korrigieren.

Wie geht es weiter? Definieren Sie die jetzige Situation als Zwischenstadium, wo man einen Geburtenberg, einen unerwarteten Zustrom zwischenlagern muß, oder sehen Sie ein strukturelles Problem?

Die Relation Wissenschaftler - Studenten ist in der Tat nicht so, wie man sie sich wünscht. Aber man muß auch sagen, daß diese Relation in Berlin deutlich günstiger ist als an allen anderen großen Universitäten wie Münster, Köln, Hamburg. Ich gehe allerdings auch davon aus, daß wir gemeinsam ein hohes Maß an Phantasie entwickeln und vorhandene Möglichkeiten besser ausnützen müssen. Wenn Gebäude von 6 bis 22 Uhr geöffnet sind, dann frage ich mich, warum Vorlesungen nur von 9 bis 16 Uhr stattfinden.

Heißt das für den Berliner Studenten, daß er in Zukunft morgens um sechs in die Vorlesung geht und im Schichtbetrieb bis Mitternacht arbeitet, zum Beispiel im Labor?

Das heißt es natürlich nicht, das heißt nur, daß man die vorhandenen Möglichkeiten prüft. Ich fordere nur angesichts der schwierigen Situation auf, erneut zu schauen, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt. Da sind wir noch nicht am Ende.

Entscheidend ist ja wohl das Lehrangebot. Hätte man da nicht die gerade beschlossene letzte Rate der Stellenstreichung stornieren müssen?

Das ist ein Etatbeschluß des Abgeordnetenhauses, das ist Gesetz. Da können wir nicht einfach sagen: Das machen wir nicht. Ich will aber auch mit aller Deutlichkeit sagen: Wenn jemand sich einbildet, es gäbe ein Programm, das paradiesische Zustände herstellt, dann ist das einfach unwahr.

Haben Sie denn den Eindruck, daß die Studenten paradiesische Zustände fordern?

Nein, aber überzogene Forderungen, die eindeutig zu Lasten anderer Bereiche gehen, sind langfristig mit Sicherheit schädlich für den Hochschulbereich. Der Neid über die Hochschulen, viele abwertende Äußerungen in der Vergangenheit über Studenten und Professoren, kommt nicht von ungefähr.

Es ist nicht so, daß der Neid der Bevölkerung gegen die Studenten steht, ganz im Gegenteil. Zum ersten Mal wird eine Studentenbewegung voll in der Öffentlichkeit anerkannt.

Es wäre schön, wenn diese Sympathie soweit ginge, wenn die Leute den Studenten „Buden“ zur Verfügung stellen würden.

Heißt das, Sie haben als Senator genug getan?

Nein, ich habe nur gesagt, was wir zunächst machen. Ich wehre mich nur dagegen, sozusagen aus der Hüfte zu sagen, was jetzt richtig wäre...

Das kann man auch als Spiel auf Zeit verstehen in der Hoffnung, daß die Studenten abgeschreckt werden, und sich im nächsten Semester weniger immatrikulieren.

Ich glaube nicht, daß das eintreten wird, das ist bisher nie eingetreten. Ich glaube sogar, daß die Offenheit, mit der wir in Berlin reagiert haben, der sofortige Vorgriff auf das Bund-Länder-Programm, gezeigt hat, daß wir es ernst meinen mit Berlin als Wissenschaftsstadt und als Ausbildungsstadt.

Die Studenten erheben bei ihrem Streik viel weitergehende Forderungen. Sie „wollen Raum, nachzudenken über das, was wir tun“. Die Studenten wollen einen Freiraum. Sie wollen Feminismusforschung, Faschismusforschung - die Sie zum Teil persönlich verhindert haben -, sie wollen Interdisziplinarität.

Was den Freiraum angeht, so kann ich glücklicherweise belegen, daß ich das auch so sehe. Man hat zu berücksichtigen, daß die Leute heute zum Teil andere Lebensprospekte haben als vor 30 oder noch vor 15 Jahren. So vertrete ich bei der Diskussion um die Studienzeitverkürzung die Auffassung, daß man nicht, wie Herr Möllemann es betont, die durchschnittlichen Studienzeiten verkürzen kann. Erstens schaffen wir das gar nicht so schnell. Und zweitens fassen immer mehr Studenten das Studium ganz anders auf, nämlich so, wie Sie es geschildert haben. Zur Interdisziplinarität: Hochschullehrer setzen oft Forschung und Lehre identisch, indem sie ihr Forschungsgebiet dem Lehrgebiet gleichsetzen. Dies halte ich für falsch, weil ich meine, daß das Lehrgebiet ein breiteres sein muß, es muß Überlappungen geben. Deswegen habe ich gegen diese Forderungen überhaupt nichts. Bei der Frauenforschung ist es so, daß ich von zwölf Listen, bei denen Frauen an erster Stelle standen, elf berufen habe. In einem Falle habe ich eine Frau berufen, die an zweiter Stelle stand - an erster stand ein Mann - und in einem Falle habe ich nicht eine Frau berufen, die an erster Stelle stand, sondern einen Mann, und dies schlicht und allein aus fachlichen Gründen. Bei Faschismusforschung meinen Sie wahrscheinlich, daß ich Herrn Wippermann nicht berufen habe. Das kann ich einfach begründen. Das Problem ist, daß ich, wenn ich Herrn Wippermann berufen hätte, zwölf gleichgelagerte Fälle, nämlich Hausberufungen, gehabt hätte.

Es ist von einer Reihe von Fällen bekannt, daß Sie bei Berufungsverfahren in die Autonomie der Universitäten eingreifen. Im Falle der Fachhochschule für Wirtschaft hat Ihnen das Verwaltungsgericht mitgeteilt, daß es Ihnen nicht ansteht, die Berufungsfähigkeit von Bewerbern zu definieren.

Also, wir haben da eine ganz gute Statistik. Aber ich bin schon der Meinung, daß mein Amt auch eine Berufungs- und Personalpolitik beinhaltet. Es gibt viele Fälle, die laufen folgendermaßen: Da wird eine Berufungsliste eingereicht, dann klingelt das Telefon und dann heißt es: Wir haben an erster Stelle der Liste zwar Herrn Soundso, aber wissen Sie, Herr Senator, das mußten wir machen, und zwar weil es eine Hausberufung ist, oder es heißt: Wissen Sie, der Herr Kollege Soundso, der ist kompliziert, und der Erstplazierte ist sein Schüler, oder der hat für uns gegutachtet, und Sie wissen schon. Der Zweit- oder der Drittplazierte ist eigentlich der richtige. Ich will jetzt nicht Leute diskriminieren, aber das ist ein übliches Geschäft.

Wesentliche Forderung des studentischen Streiks ist die nach Mitbestimmung. Sehen Sie diese Forderungen als gerechtfertigt an?

Es ist immer die Frage, was man unter wirklicher Mitbestimmung versteht...

Zur Zeit bestimmen wirklich nur die Professoren in den wesentlichen Gremien.

Wir haben ein paar Rahmenbedingungen zu beachten. Da ist das Hochschulrahmengesetz und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ja klare Aussagen trifft. Ich bin persönlich der Meinung, daß diese Frage der Mitwirkung oder des Beklagens, nicht beteiligt zu sein, nicht nur für Studenten gilt. Sondern das gilt, so merkwürdig das klingt, auch für die Professoren, die nicht in den Gremien sitzen.

Mit anderen Worten: Sie sehen in dem Rahmen wenig Möglichkeiten.

So ist es.

Die Studenten haben sich aber bereits zum zweiten Mal nach den Tutorenstreiks 1986 öffentlich als eine politische Kraft formiert, politischer Druck kann bekanntlich auch die Änderung bestehender Gesetzeslagen initiieren. Wie schätzen Sie die politische Kraft der Studenten ein?

Die Kraft ist schon da, und die Nachdenklichkeit ist auch gegeben, sonst würden wir uns jetzt ja gar nicht darüber unterhalten müssen. Ich bin aber der Meinung, daß es richtig und gut wäre, nicht akute Vorkommnisse zum Anlaß zu nehmen, etwas dauerhaft festzuschreiben, sondern daß zu einer Analyse und einer Folgenbewertung ein gewisses Maß an Zeit benötigt wird.

Aus allem, was Sie gesagt haben, geht hervor, daß die bisherige Ordinarienuniversität nicht richtig reagieren kann, mit der Situation nicht fertig geworden ist. Wäre es nicht politisch plausibel zu sagen, daß jetzt die Mehrheit an den Universitäten an den Entscheidungen beteiligt werden muß?

Ich habe ja in Berlin die Situation in den Sechzigern erlebt und Anfang der Siebziger. Die damaligen Beteiligungsrechte waren auch nicht so, daß man meinen sollte, das sei des Rätsels Lösung. Mir wäre das zu voreilig...

Aber den Gedanken wehren Sie nicht ab?

Ich wehre überhaupt keinen Gedanken ab. Meine bisherigen Erkenntnisse gehen allerdings nicht in diese Richtung. Mein Eindruck ist der, daß viel von dem Ärger und der Frustration bei den Studenten auf fehlender Information beruht.

Waren Sie denn schon mal bei Vollversammlungen oder in Streikseminaren?

Natürlich, soweit ich da reinkomme. Ich mache eigentlich gar nichts anderes, als mit Studenten zu reden.

Was passiert, wenn der Studentenstreik am 2.Januar 1989 weitergeht?

Das werden wir dann zu entscheiden haben.

Auf Ihrem Politikfeld ist ausgerechnet im Wahlkampf die Hölle los. Werden Sie nach den Wahlen weiter Wissenschaftssenator sein?

Ich habe keine Veranlassung, etwas Gegenteiliges anzunehmen und mir einen Möbelwagen zu bestellen.

Interview: Thomas Rogalla, Klaus Hartun