: Wird das nächste Jahr wie dieses, wird es auch ein mieses!
■ 1988 - das Jahr, das dem Innensenator den Garaus machen wird / Berlin in den Schlagzeilen der Weltpresse - ein Rückblick
„Hast Du schon alle Weihnachtsgeschenke eingekauft?“ diese leicht hingeworfene Frage, ohne jede böse Absicht als Freundlichkeit gemeint, versetzte gestern den Kollegen Redakteur in nervöse Wut. Kaum zu glauben, daß erwachsene Menschen, die sich gerade davon befreit haben, die Weihnachtstage unter dem elterlichen Baum zu verbringen, nichts Besseres zu tun haben, als sich die verhaßte Konvention selbst aufzuhalsen. Hektisch werden Verabredungen getroffen, Speisezettel entworfen und Tischkärtchen gemalt, per Telefon bei Muttern die Rezepte für Gans und Truthahn abgefragt und sich dann am Abend, frisch gebadet und erschöpft, an den Tisch gesetzt und irritiert gefragt: Was bleibt vom letzten Jahr?
In jedem Falle (noch) der Innensenator, mittlerweile ein berühmter Mann, Anti-Berliner des Jahres. Weit läßt er den Regierenden hinter sich, der, bemüht um staatsmännisches Renommee und angestrengt in Weizsäckers Fußstapfen tretend, nicht müde wird, Berlin zur Metropole zu erklären. Und wer spricht von Volker Hassemer, von E88, der Kulturhauptstadt. Nein, Kewenig hat in diesem Jahr alle weit hinter sich gelassen und wahrhaft historische Worte geprägt. „Am Tatort muß die Presse schon einmal zurückstehen.“ Der Satz, während der IWF- und Weltbank-Tagung vor den Augen und Ohren der internationalen Presse gesprochen, bleibt unübertroffen. Während auf den Straßen der Stadt 10.000 Polizisten, hergeholt zum Teil aus Westdeutschland, die Kritiker der Tagung niederknüppeln, willkürlich Hunderte von Leuten unter dem Vorwand der „Terroristenfahndung“ überprüft und festgenommen werden, beraten im ICC die Bänker der Welt über die Zukunft der verschuldeten Dritten Welt. Die Szene verlieh Berlin den Titel „Bullen-Hauptstadt“. Doch nicht nur damit kam Kewenig in die Schlagzeilen.
Aufsehen in aller Welt erregte auch die Besetzung des Lenne -Dreiecks. Viele Wochen blieb das Stück Niemandsland zwischen Ost und West Schauplatz alternativ-autonomen Lebens. Dem Osten gehörend, durfte die Berliner Polizei sehr zu ihrem Bedauern nicht drauf. So blieb das Hüttendorf auf dem „Kubat-Dreieck“, benannt nach Norbert Kubat, der sich im Knast umgebracht hatte, lange unbehelligt, und die VoPos konnten, über die Mauer gelehnt, Basisdemokratie studieren. Bis die Polizei schließlich absurde Wasserwerferorgien veranstaltete und das Gelände zum Sumpfgebiet wurde. Am Ende wurde dann doch geräumt. Der Gebietsaustausch am 1.Juli brachte den West-Behörden den Zugriff. Der Sprung über die Mauer in die Arme der Grenzer ersparte den meisten Besetzern nicht die Anzeige. Bei ihrer Rückkehr wurden sie auf dem S -Bahnhof von der Berliner Polizei gleich abgefangen. Auch dieses Ereignis erhöhte die Negativ-Popularität des Innensenators erheblich. Den von ihm selbst ernannten Polizeipräsidenten versteckte er erfolgreich, die Öffentlichkeit hat ihn bereits vergessen.
Ost-Berlin hat im letzten Jahr nicht nur Gebiete abgetreten. Auch ihre Dissidenten wurde sie los. Nach den Ereignissen am 17.Januar wurden bei der großen Liebknecht/Luxemburg-Demo führende Bürgerrechtler verhaftet und dann in den Westen abgeschoben. Darunter der Liedermacher Krawczyk und die Regisseurin Freya Klier. Die DDR wird ihre Intelligenz los, dafür dürfen die West -Berliner jetzt zwei Tage drüben bleiben. Gute Aussichten für die Ost-West-Liebenden, aber nur die mit genug Kohle. Wer kann es sich schon leisten - wenn die Nacht 50 Mark Zwangsumtausch kostet. Apropos Kohle: Die Arbeitslosenzahl hängt immer noch knapp unter 100.000, und die Zahl der Sozialhilfeempfänger steigt langsam, aber stetig.
Was allerdings sprunghaft in die Höhe ging im letzten Jahr, sind die Mieten. Und da nützt es gar nichts, wenn der Bausenator Gutachten in Auftrag gibt, die das Gegenteil beweisen sollen. Ein Blick in die Sonntagsausgabe der 'Morgenpost‘ macht klar. Wer heute eine Wohnung sucht, kommt unter zehn Mark kalt pro Quadratmeter nicht mehr weg. Die Vermieter nehmen, was sie kriegen können, und beim derzeitigen Wohnungsmangel gibts nach oben keine Grenzen mehr. Knapp 20.000 Aussiedler, Umsiedler und Asylbewerber sind in diesem Jahr nach Berlin gekommen, auch die wollen alle eine Wohnung. Die Versprechungen von Bausenator Wittwer, 100.000 Wohnungen bis zum Jahr 2000 zu bauen, sind utopistisch. 100.000 Wohnungen, das ist so viel wie der ganze Bezirk Kreuzberg umfaßt. Die Lösung wäre: in die Höhe bauen. Wolkenkratzer an der Spree. Aber das Berliner Dogma heißt immer noch fünf Stockwerke.
Prekär, zumal die Volkszählung, diese unsägliche Aushorchung, die mit großer Verspätung und auffällig leise beendet wurde, ergab, daß 70.000 Wohnungen weniger existieren, als man geglaubt hat. Sonst weiß man noch nicht viel, vor allem nicht, was mit den Zahlen nun passieren soll. Aber auch das ist dem Innensenator wahrscheinlich egal, auch dem Leiter des Statistischen Landesamtes, Appel. Denn der hat jetzt eine neue Aufgabe bekommen. Er ist Landeswahlleiter und dafür verantwortlich, daß am 29.Januar 1989 alles klar geht.
Doch soweit sind wir noch nicht. Noch ist Wahlkampf, und der firmiert unter dem Stichwort Verfassungsschutz. Doch dazu soll hier geschwiegen werden. Interessant hingegen ist ein Untersuchungsausschuß, der just zu Ende ging, als der über die Machenschaften des Verfassungsschutzes eingerichtet wurde. Fast zur Legende ist schon geworden, was unter dem Titel „Berliner Sumpf“ zusamengefaßt wurde. Ende November behandelte das Abgeordnetenhaus zu später Stunde den Abschlußbericht des Ausschusses. Die nüchterne Bilanz in Zahlen: 230.000 Blatt Akten, 31 Zeugen, 967 Stunden Sitzung. Was daraus resultierte: 946 Ermittlungen und 21 Verurteilungen. Das Wirrwarr war am Ende groß, die Öffentlichkeit hatte das Interesse verloren. Eine bewährte Methode, um Skandale in bürokratische Vorgänge und Aktenvermerke zu verwandeln. Auch einer der kleinen Ganoven, die sich in Senatskreisen tummeln, soll nicht unerwähnt bleiben. Der Mitarbeiter Finks, bekannt geworden als Bären -Kliem, wurde wegen geringer Schuld zu einer Geldbuße von 8.000 Mark verurteilt. Er hatte die häßlichen Plastik-Bären, deren künstlerischer Wert von niemandem gesehen wird, verdealt und zum Teil in die eigene Kasse gewirtschaftet.
Seltsamerweise schadet all dieses nicht dem Ansehen der CDU. Noch immer strahlt Generalsekretär Landowsky und läßt keinen Zweifel daran, daß er mit der CDU die Wahl gewinnen will. Trotz der Peinlichkeit der Verurteilung von Mitglieder der Jungen Union wegen „Sieg-Heil„-Rufen auf einer Silvesterparty. Und dabei bröckelt ihm nicht nur der rechte Rand der Partei weg. Auch der Senat ist nur noch mühsam zusammenzuhalten. Der „schnelle Brüter“ Berlin diente dem ehemaligen Justizsenator Scholz zum Aufstieg als Verteidigungsminister. Ob er allerdings so freudig nach Bonn gegangen wäre, hätte er gewußt, daß die Tiefflieger gleich auf ihn stürzen, wer weiß. Aber er ist nicht der einzige. Jugendsenatorin Schmalz-Jacobsen geht ihren Weg von München über Berlin in die Parteizentrale der Freien Demokraten. Bekommen hat die Stadt den unscheinbaren Herrn Rehlinger, Justizsenator, der die Öffentlichkeit kürzlich mit seinen Beschreibungen über die Wohnlichkeit des Hochsicherheitstrakts erstaunte. Verkehrssenator Wronski quittiiert den Dienst. Und wie lange Sozialsenator Fink noch von Berlin aus die christdemokratische Sozialpolitik mitbestimmen wird, bleibt ungewiß. Einzig die streitbare Bürgermeisterin ist den Berlinern sicher. Hanna Renate Laurien steht fest wie der Fels in der Brandung. Der Schülerstreik kratzt auch nicht an ihrem Weltbild. Für sie ist klar: Alles von links gesteuert! Da ist selbst ihr Senatskollege Turner moderater. Das Jubelfeier der Freien Universität löste den längsten und intensivsten Studentenstreik seit '68 aus. Die Misere ist nicht zu übersehen, und die Hochschulen bekamen zum Jahresende 20 Millionen. Mehr Mitbestimmung aber will Turner nicht. Kein Diskussionsbedarf.
Der Rest in Stichworten: Das Wort des Jahres ist „Asbest“. Asbest im Schulen, in Turnhallen, in öffentlichen Gebäuden. Die Lungenkrebs fördernde Faser begleitete Schüler und Lehrer durchs Jahr. Nicht mehr dabei 1989 ist der Berliner Platz im SFB. Der fiel der Programmstrukturreform zum Opfer. Erhalten bleibt Intendant Herrmann bis zum März. Wie könnte es anders sein, dann hat er Anspruch auf das ganze Jahresgehalt. Wie er das macht, wird alle Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger brennend interessieren. Aufsehen erregte auch der AL-Abgeordnete Härtig, der, statt sich von Gewalt zu distanzieren, wie die CDU dies immer fordert, die Hand erhob gegen den CDU-Abgeordneten Hapel. Doch nicht dies ist das Interessante, sondern daß der Protest der Christdemokraten ausblieb. Man munkelte, sie hätten's gar nicht so ungern gesehen. Zu guter Letzt soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Berliner Busfahrer einen Triumph ihrer Macht verzeichnen konnten. Der Mitteleinstieg in die „Doppeldecker“ wurde wieder abgeschafft. Die Kontrolle über den Bus ist wiederhergestellt. In diesem Sinne ins neue Jahr, ohne Skulpturenboulevard, Randale-Denkmal. Ohne Trabi am Rathenauplatz und ohne das Kunstobjekt „M-Bahn -Durchbruch“. Ein Trost? Es kann nur besser werden!
bf
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