SCHWARZE LEDERHOSEN

■ Endgültiger Text des englischen Musikjournalisten David Rimmer über Berlin

„It's nice to be back“, sagt der englische Sänger auf der Bühne des Ecstasy, nicht ohne einen Hauch von Sarkasmus, „in der Stadt der Verzweiflung und Dekadenz“. Das dichtgedrängte Publikum reagiert kaum. Vielleicht verstehen sie kein Englisch, aber andererseits reagiert das Westberliner Publikum immer schwach. Entweder das oder aber sie klatschen ein bißchen zu laut.

Das zur Einführung, der Barde wuselt sich seinen Weg in den Eröffnungssong. Obwohl Engländer, ist er bei sich zu Hause so gut wie unbekannt. Ich hatte kaum je von ihm gehört, bevor ich in diese kleine Stadt kam, jedoch scheint der Sänger hier über eine beachtliche Gefolgschaft zu verfügen, hauptsächlich einfach dadurch, daß er ein bißchen Zeit in Berlin verbracht hat. So wurde er zu einer Art „local hero“: Die Leute sind stolz darauf, von sich sagen zu können, an der Kasse bei Bilka mal ein paar Worte mit ihm gewechselt zu haben. Ich sehe ihn jetzt dort oben an seiner Gitarre zupfeln und ins Mikrophon schmachten und stelle fest, daß er mehr oder weniger hier zum Eingeborenen geworden ist. Soviel ist klar, zumindest durch seine schwarzen Lederhosen.

Schwarze Lederhosen. Dieses Mäuschen am Tresen im Pinguin Club trägt sie. Diese Punks, die die Görlitzer Straße runterschlurfen, tragen sie. Der biedere junge Bubi mit dem Bürstenschnitt, der im Martin-Gropius-Bau durch seine Nickelbrille die Gemälde anstarrt, trägt sie auch. Für Kreuzberger Linke und Charlottenburger Ästheten, für die Schöneberger Szenegänger und Moabiter Hänger, für alle ist ein Element der Uniform einfach angesagt: Schwarze Lederhosen.

Okay, vielleicht findest Du das nicht weiter merkwürdig. Vielleicht trägst Du selbst ein Paar Lederhosen oder hast zumindest eins zu Hause im Schrank hängen. Mir allerdings erscheint das reichlich sonderbar. Bevor ich hier ankam, habe ich ein Dutzend Jahre in London gelebt. Dort konnte man bestimmte Popgruppen in schwarzen Lederhosen sehen, auch die Bewohner mancher Schwulenbars. Der einzige Typ, der sie als Teil seiner alltäglichen Klamotten vorgeführt hat, ist der Rockjournalist Nick Kent; seit 1975 hat er nichts anderes mehr angehabt.

In Berlin ist die Vorliebe für dieses erbärmliche Stück Kleidung Ende der Siebziger entstanden. In all den Jahren meiner Stippvisiten in dieser Stadt hat sich, wie vieles andere, auch das nicht verändert. DIe Kids, die vor zehn Jahren Hippies geworden wären, sind heute Punks - was so ziemlich auf's Selbe rauskommt - und schwarze Lederhosen verbreiten sich immer mehr. Vielleicht gibts dafür einige ganz profane Gründe. Lederhosen sind teuer. Hast Du Dich erst einmal in Unkosten gestürzt, kannst Du Dich nur schwer wieder davon trennen, zumal sie ja auch ewig halten. Außerdem habe ich gehört, daß sie ziemlich bequem sein sollen. Aber, unter uns, seit wann hat Mode jemals was damit zu tun gehabt, ob etwas praktisch oder bequem ist?

Mag ja sein, daß wir Engländer zu stark vorbelastet sind, was Stil angeht und wie man ihn „liest“. Andererseits erscheinen mir Berliner oft als stilistische Analphabeten. Sie tragen, was sie tragen, ohne eine Unze Witz oder Phantasie. Manchmal, wenn ich am Eingang des Loft stehe, läufts mir kalt den Buckel runter, wenn ich so sehe, was die Leute anhaben. Berliner beziehen ihren Stil vollkommen unkritisch aus englischen oder amerikanischen Quellen und stellen dann alles in den unmöglichsten Kombinationen zusammen. In ihrer Berliner Übertragung verlieren bestimmte Stile jegliche Spur von Kreativität und kultureller Subtilität, die sie in einem anderen Kontext besessen haben mögen. Wie der Westeuropäer, der auf seiner Jacke oder seinem T-Shirt irgendein modisch aussehendes japanisches Emblem spazieren führt, tragen sie irgendwas, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was es eigentlich bedeutet.

Möglicherweise wird das immer so sein, wenn man Stil aus zweiter Hand bezieht. Zum Beispiel Skinheads. Ich sehe sie oft durch Berlin traben und frage mich immer das Gleiche. Der Stil der Skinheads entstand im England der späten sechziger Jahre aus dem Zusammenprall zwischen dem proletarischen Flügel der Mods (die Mittelschicht-Mods verwandelten sich in Hippies) mit der letzten Welle von Immigranten aus den früheren karibischen Kolonien. Was würden diese jungen deutschen Rassisten sagen, wenn sie kapierten, daß ihr kurzgeschorenes Haar, ihre etwas zu kurzen Hosen etc. ursprünglich von armen schwarzen Kids abgekupfert wurde? Natürlich sind den englischen Skins die Wurzeln ihres Stils genauso unklar. Dennoch dauert in England die Skinhead-Tradition als Teil eines langfristigen Austauschs zwischen schwarzer und weißer Kultur an - ein Austausch, der der britischen Pop-Kultur viel von ihrer Stärke gibt. Hier in Berlin sind Skinheads vollkommen deplaziert - außer vielleicht, um zu beweisen, wie schwach eigentlich die hiesige Pop-Kultur ist.

Während der Berlin Independence Days hatte ich eine Podiumsdiskussion über die Musikpresse zu moderieren. Gegen Ende der Veranstaltung degenerierte die Diskussion zu einem lächerlichen Disput. Das deutsche Kontingent im Publikum hielt den versammelten Kritikern vor, daß sie zu selten deutsche Bands featuren. Wir Kritiker, die wir uns vorher über so ziemlich alles gestritten hatten, zuckten einmütig mit den Schultern und fragten uns, warum verdammt nochmal wir über deutsche Gruppen schreiben sollten, wenn sie uns nun mal nicht gefallen.

Wir wiesen auch darauf hin, daß der größte Teil der deutschen Musik, die ein bißchen internationalen Einfluß hat - Kraftwerk zum Beispiel oder die Einstürzenden Neubauten etwas spezifisch Deutsches hat, ein Stück der aktuellen deutschen Identität spiegelt. Der größte Teil der Musik hingegen, die ich bislang von Berliner Bands gehört habe, scheint mir kaum mehr zu sein als eine armselige Kopie von englischem oder amerikanischem Material. Armselig deshalb, weil sie - wie die Skinheads - die Verbindung zu dem Kontext, aus dem sie entstanden sind, verloren hat. Armselig deshalb, weil Second-Hand-Musik genauso wie der Stil aus zweiter Hand das meiste an Schärfe, an Ironie, das meiste von dem eingebüßt hat, durch das es in seiner natürlichen Umgebung Sinn macht. Diese Musik reflektiert einfach nur die deprimierende, oberflächliche Amerikanisierung von West -Berlin.

Irgendwann fragte jemand die Leute auf dem Podium nach ihrem individuellen musikalischen Geschmack. Als ich an der Reihe war, und mein Interesse an schwarzer Musik, an Tanzmusik und der Kraft des Mainstream-Pop gestand, geriet irgendein Typ hinten im Saal ganz außer sich und rotzte mich an: „Die Intelligenzia, schau sie Dir an!“ Überflüssig zu sagen, daß er in schwarzen Lederhosen steckte.

Man könnte erwidern: „Die Berliner Scene - schau sie Dir bloß an!“ Schwarze Lederhosen, oft kombiniert mit spitzen Cowboystiefeln. Kombiniert mit dem dämlichsten aller modischen Accessoires: Sonnenbrillen in der Nacht. Wenn ich jemand mitten in der Nacht eine Sonnenbrille tragen sehe wie so mancher in manchen Läden, etwa der Turbine - kann ich mich nur schwer zurückhalten, hinzugehen und ihm/ihr einen guten, soliden Arschtritt zu verpassen. Für mich verkörpern die schwarzen Lederhosen alles, was an West-Berlin so typisch phantasielos, provinziell und einfach stinklangweilig ist.

Warum tragen die Leute sowas? Gut, schwarz ist die Farbe der Dunkelheit, der Härte, der Negation. Die russischen Nihilisten machten Schwarz zur Farbe der Außenseiter; ihr Deutsche zur Farbe des Faschismus und der Brutalität. Seit der Jahrhundertwende hat Schwarz auch den Beigeschmack von Dekadenz. Was für Schwarz gilt, gilt umsomehr für schwarzes Leder. In „Die Wilden“, ein Film über eine Motorrad-Gang mit Marlon Brando in der Hauptrolle, avancierte es zum anerkannten Symbol des „rebel without a cause“. Schwarzes Leder weckt auch Assoziationen zum Sado-Masochismus. Schwarze Lederhosen sind irgendwie ein bißchen mehr deviant als schwarze Lederjacken. Wenn man dünn ist, sieht man darin noch dünner aus (wenn Du's nicht bist, Finger weg); sie verleihen dem, der drinsteckt, ein elegant verbrauchtes Aussehen wie man es sonst nur durch übermäßigen Genuß gewisser Narkotika erreicht.

Kurz, schwarze Lederhosen transportieren das Bekenntnis: „Ich bin ein kleines, mieses, dekadentes Arschloch, und stehe auf Heroin und harten Sex.“ Die Tatsache, daß die meisten Lederbehosten niemals etwas Stärkeres als Koffein zu sich nehmen und sich angesichts eines leibhaftigen Sadisten klammheimlich verpissen würden, tut dabei nichts zur Sache. Das hier ist Berlin, Stadt der Verzweiflung und Dekadenz, und schwarze Lederhosen vermitteln dem Besitzer anscheinend das Gefühl, dazu zu gehören.

Natürlich ist das gegenwärtige Berlin für eine angebliche Hauptstadt der Dekadenz kreuzbrav. Fast genauso brav ist es als angebliche Kulturhauptstadt. Ich meine, E 88 ist schön und gut, aber keine noch so große Menge von außen eingekaufter Großkunstereignisse kann die Tatsache verdecken, daß in Berlin selbst nur noch sehr wenig produziert wird, was für jemand irgendwo anders auf diesem Globus von auch nur geringem Interesse sein könnte. Und was die Dekadenz angeht, so denke ich manchmal, daß es der Berliner Szene endlich gelungen ist, das Wort in seinem tiefsten, trübsten Sinn zu definieren. Die Leute hängen in Kneipen herum, lassen sich entweder volllaufen oder kauen, aufgekratzt vom Speed, frustriert an ihren Fingernägeln, versuchen, die laute Musik ihrer bemitleidenswerten Junkie -Rock-Stars zu übertönen, dabei cool auszusehen und tun oder produzieren dabei absolut NICHTS. Mal ehrlich, das einzig Interessante am Berliner Nachtleben im Vergleich zu demjenigen der meisten anderen Städte ist die bloße Tatsache, daß es bis in die Morgenstunden andauert. (Na, und das die U-Bahn um 0.30 Uhr dicht macht! d. säzzer) Das Berlin der späten achtziger Jahre lebt von seiner Reputation und sonst gar nichts.

In diesem Sinne reduziert sich das Tragen von schwarzen Lederhosen auf ein ziemlich konservatives Statement. Die dunklen Konnotationen fallen weg, was übrig bleibt ist ein Aufkleber, der beweisen soll, daß man einer bestimmten Gruppe angehört. „Ich bin ein Mitglied der Berliner Szene“, sagt es, „das ist die Schublade, in die ich gehöre“. In Berlin scheint jeder in so einem Schächtelchen zu leben. Mehr noch, Berliner scheinen sich ihrer Kiste, ihrer kulturellen Beschränktheit zu erfreuen. Du bist die und die Person, also gehst Du in die und die Kneipen und hörst Dir in diesen Klamotten die Musik an. Du gehst niemals in jene Kneipe und hörst Dir in jenen Klamotten jene Musik an. Die Leute vermischen sich hier einfach nicht. Sie haben eine Mauer nicht nur um die Stadt, sie haben sie auch in ihrem Kopf.

Das bringt uns vielleicht ein bißchen näher an eine Erklärung. warum Berlin so wenig Bemerkenswertes an Musik, an Mode, Kunst oder Design hervorbringt. Die Leute, die „in“ sind, starren nur nach innen, von irgendwoher sickern irgendwelche neuen Ideen ein. Nichts schlägt Wurzeln, nichts ist fruchtbar, nichts wächst. Während dir britische Popkultur von den Überschneidungen, vom Austausch zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Schwul und Hetero vorangebracht wird, gehen sich hier Schwule und Heteros gegenseitig aus dem Weg und jeder ignoriert vollkommen die Kultur einer so großen Immigrantengemeinschaft wie die der Türken.

Leute, die „in“ sind, gibt es natürlich überall. Als Teenager gehörte ich zur Gemeinde der leidenschaftlichen Partygänger. Was für 'ne Party das nun war, hat uns nicht interessiert. Wenn es eine schlechte Party war, machten wir uns eine gute Zeit, indem wir uns über alles und jeden amüsierten. Ich glaube, das ist die einzig vernünftigte und gesunde Haltung gegenüber Berlin. Berlin ist eine schlechte Party. Genauer gesagt, es ist mehrere schlechte Parties. Kreuzberg ist eine dieser billigen Parties ohne Möbel, nackten Dielenbrettern, roten Glühbirnen an der Decke, irgendeinem Billigbier, das schon vor Stunden ausgegangen ist und irgendeinem Schweinepriester, der ständig Black Sabbath auflegt. Charlottenburg ist wie eine Party voller angejahrter Akademiker und Kunstkritiker. Die Gäste haben Geld und eine gewisse Eleganz, sind aber gelangweilt und haben ihre Phantasie und Kreativität vor langer Zeit aufgebraucht. Schöneberg ist eine schicke Studentenfete voller arroganter, zorniger junger Wichser, die sich selbst das peinliche Etwas zu ernst nehmen.

Viele Leute nehmen sich ein klein wenig zu ernst, was genau eines der Dinge ist, die diese Stadt ein bißchen albern machen. Und glaubt mir, wenn man Berlin von außen sieht, ist Gelächter die einzig adäquate Reaktion auf manche Dinge, die das Vakuum der Berliner Szene verdecken sollen.

So habe ich selten so gelacht wie über das Cover-Foto, das vor einigen Monaten den 'Tip‘ zierte, ein Foto, das mir wie eine Zusammenfassung der Entwurzelung, der Abwesenheit von Humor, der Mutlosigkeit und der Leichtgläubigkeit von West -Berlin erschien.

„Das Comeback der Blumenkinder“ verkündete die Titelstory. Die Zeile unterschrieb ein beeindruckend schlechtes Foto einer vage psychedelisch gekleideten Figur, die, als ich ihr vor einigen Wochen vorgestellt wurde, den gleichen langweiligen schwarzen Kram wie jeder andere auch trug. Der Anlaß zu dieser dramatischen Proklamation im 'Tip‘? Ein Konzert von drei Sixties-Revival-Bands im Loft. Wenigstens eine der Bands hatte Sinn für Humor, aber keine der drei Gruppen hatten auch nur die Spur einer originellen Idee. Und aus dem Loft, immerhin einer von Berlins besseren Treffpunkten, ist mittlerweile auch kein Woodstock geworden.

Ein paar Wochen später habe ich in Kneipen wie dem Niagara oder Rössli eine schräge Figur im Paisley-Hemd und mit psychedelischen leggings bemerkt (als ob 1967 irgendjemand leggings getragen hätte). Den erwähnten Bands ist nichts weniger gelungen als die Welt im Sturm zu nehmen; die wirklichen Hippies, die in Berlin ja eigentlich nie verschwunden, geschweige denn wiedergekommen sind, haben weiter tapfer ihre südafrikanischen Trauben boykottiert und sich in ihren Abendkursen abgerackert, und all diejenigen, die psychedelische leggings angezogen hatten, haben sie schließlich wieder ausgezogen und - natürlich - wieder ihre schwarze Lederhosen hervorgekramt.

Übersetzung: Rolf Amann