Gorbi, der Renner der Weihnachtssaison

Aufbruchstimmung unter „wildgewordenen Spießern“?/ Ein Stimmungsbild aus Ost-Berlin  ■  Von Holger Eckermann

Mitten im Kaufrausch haben pfiffige DDR-Bürger eine Marktlücke entdeckt. Gorbatschows Antlitz auf Unterhemd gedruckt, für 35 Mark, zu haben auf Hinterhofweihnachtsmärkten am Prenzlauer Berg. Aber auch das Geschäft mit Stalin kommt jetzt ins Rollen. Vor allem Künstler sind auf alte Fotos erpicht, um bissige Grafiken über den kommenden Buhmann des Kommunismus‘ anzufertigen. Besonders Schulbücher der fünfziger Jahre werden durchsucht. Die Aufbruchstimmung unter Intellektuellen ist kaum mehr zu bremsen, auch wenn Erich Honecker sie „wildgewordene Spießer“ schimpft und davor warnt, nun „in die Anarchie zu marschieren“. „Ist Gorbatschow denn Anarchist?“ fragten besorgte Funktionäre nach Honeckers markiger Grundsatzrede jüngst auf der Tagung des Zentralkomitees, die Sprachregelungen für Karrieristen ausgab. Erster Nachahmer war ein Meister aus einem Berliner Elektrokombinat in der Aktuellen Kamera des DDR-Fernsehens: „Die Spießer, die heute rumquaken, was in der Sowjetunion passiert und bei uns nicht, die uns empfehlen, das eine oder andere ebenfalls zu machen, wollen doch nur in Frage stellen die gewachsene, sich ständig vertiefende und weiterentwickelnde Freundschaft zwischen der DDR und der Sowjetunion.“

Die DDR-Führung will sich ihr Lebenswerk, den „preußischen Sozialismus“, nicht vermiesen lassen, vor allem jetzt im 40.Lebensjahr nicht. Der FDJ-Zentralrat ging mittlerweile über das „Sputnik„-Verbot hinaus. FDJ-Clubs sollen keine Veranstaltungen über die Sowjetunion mehr durchführen, die zu Diskussionen über Moskaus Reformgeist führen könnten. Selbst Lieder von Bulat Okudschawa fallen unter dieses Verdikt. Angemessen ironisch reagierte das Ost-Berliner Funktionärs-Kaberett „Distel“ auf eine ähnliche Zensurmaßnahme. Siebenmal sollte im Dezember ein neues Programm aufgeführt werden, vielsagender Titel: „Keine Müdigkeit vorschützen“. Die Abende mußten gestrichen werden. Auf einem Kassenaushang wurde das Ersatzprogramm genüßlich darübergesetzt. Der neue Titel heißt: „Vorwärts zu neuen Folgen“ - wenn das Keine Prophezeiung ist.

Nicht nur Öko-, Kirchen- und unabhängige Gruppen zeigen wachsendes Selbstbewußtsein. Eine „Palastrevolution“ inszenierten vor kurzem die Bildenden Künstler in ihrem Verband. Auf einem Kongreß im presseabgeschotteten Palast der Republik kippten sie einen altstalinistischen Statutentwurf, der den Verband extrem zentralistisch ausrichten sollte, und setzten geheime Vorstandswahlen durch.

Inhaltlich wurde so laut Kritik auch am Staat geübt, daß selbst DDR-Medien zeitweise aus dem Palast verwiesen wurden. Als Resolutionen gegen das „Sputnik„-Verbot abgeblockt wurden, setzten sich Maler mit eigenen Mitteln zur Wehr. Bei einer abendlichen Malaktion, um Wandfliesen mit Friedensmotiven zu schmücken, malten die Künstler Sputniks statt Friedenstauben. Der Alt- und Ehrenpräsident Willi Sitte zog zornig aus dem Saal.

„Wir haben Demokratie geübt“, bekundete Claus Dietel, der neue Verbandspräsident, auf einer Pressekonferenz - ihm steht schon die Abwahl ins Haus, weil er undemokratisch nur per Akklamation gewählt worden ist. „Wir brauchen mehr denn je einen Neuansatz im Denken und Umgang miteinander, innerhalb des Verbandes wie außerhalb“, hatte Barbara Barsch, eine junge Kunstwissenschaftlerin gefordert und wurde mit überragendem Stimmenanteil neu in den Vorstand aufgenommen. Sie hatte den Delegierten Forderungen nach Offenheit und Eigenverantwortlichkeit vorgehalten, die so wörtlich schon vor 24 Jahren geäußert worden waren und bis heute Forderung geblieben sind. Neu waren Punkte wie diese: „Der Verband sollte zur Kenntnis nehmen, daß gegen Ausstellungen und Aktivitäten junger Künstler in Ateliers und privaten Räumen verstärkt mit dem Gesetz gegen Ordnungswidrigkeiten vorgegangen wird, und die Kollegen kriminalisiert werden.“

Andere Intellektuelle hat es dagegen die Sprache verschlagen. Stephan Hermlin etwa will zur Zeit keine Interviews mehr geben, nachdem er im Frühjahr geäußert hatte, man müsse der DDR schon zwei Jahre Zeit geben, weil es um mehr als einen Kopf gehe im Land. Wenn er sich jetzt wieder äußern würde, ginge gleich eine Kampagne im „Neuen Deutschland“ los, teilte er jüngst Journalisten mit, jetzt seien jüngere Kollegen am Zug. Generell herrsche zur Zeit eine große Unsicherheit und Konfusion, der Funktionäre recht hilflos begegnen. Erstaunlich: Die üblichen Selbstbelobigungen von Betrieben, die ihre Pläne deutlich vor Jahresende überboten haben, bleiben weitgehend aus. Stattdessen wächst Selbstkritik an Planverzug und Warenqualität. Die Verantwortung wird häufig einzelnen Betriebsleitern in die Schuhe geschoben, aber prinzipielle Debatten über mangelnde Arbeitsmotivation unterbleiben. Ohne Gorbis Reformen als Leitern am Horizont geben sich noch mehr Bürger desinteressiert und unengagiert dem Alltagstrott hin. Doch von Gorbatschow selbst vermissen viele Bürger deutlichere Zeichen des Entspannungsgeists, spürbare Abrüstung der Besatzungstruppen etwa und weniger Manöver.

„Letztes Jahr zu Heiligabend sind die Migs bis Mitternacht geflogen“, erinnert sich der Pfarrer einer Kleinstadt der Mark Brandenburg, „wenn die starten, kapituliert sogar unsere Orgel“, so laut tönen die Nachbrenner der Maschinen. Vertreter der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin haben das längst begriffen und scherzen: „Wenn wir hierzulande spürbar Panzer und Truppen reduzieren, wird es für Honecker ernst. Dann wird Gorbatschow beim Wort genommen!“

An Universitäten wächst jetzt schon die Zahl der Gorbatschow-Sympathisanten, auch unter dem Lehrpersonal. Nicht durch Revolution, sondern Evolution müsse der Sozialismus den Kapitalismus überlisten, heißt die neue Erkenntnis. Das wird Besuchergruppen der Humboldt -Universität gerne mitgeteilt. Der Kapitalismus habe sich wandlungsfähiger erwiesen, als es Marx bewußt gewesen sei, so muß auch der Sozialismus flexibler werden. Doch die alten Funktionäre setzen primär noch auf Propaganda, zur Zeit wird der Westen unaufhörlich angeschwärzt. „Je bewegter die Zeiten, desto wichtiger der Standpunkt“, hat Erich Honecker definiert. Bewußte Parteidisziplin und ideologische Standhaftigkeit sind angesagt, ergänzt die FDJ. Nicht Zweifel oder Meckern sind wichtig, sondern „Optimusmus“ und „organisierter Erfolg“. Fragen stellen sei wichtig, aber nicht „in Frage stellen“. Also wird Kontinuität signalisiert. Schon jetzt wurde die Tagesordnung nebst Rednerliste des vorgezogenen Parteitags 1990 veröffentlicht. Willi Stoph und Erich Honecker halten die Hauptreferate. Spitzfindige erinnern daran, daß auch 1971 Walter Ulbricht so langfristig als Redner angesagt war und doch nicht mehr zum Zuge kam.

Der DDR wachsen die gesellschaftlichen Probleme jedenfalls mehr und mehr über den Kopf. In Karl-Marx-Stadt überfielen jüngst vier Skinheads eine junge Frau und ritzten ihr, „weil sie jüdisch aussah“, einen Judenstern in die Haut. Die zuständige Volkspolizei interessierte sich nicht für den Fall und schenkte dem Mädchen keinen Glauben, „weil es Faschismus hier ja nicht gibt“.

Holger Eckermann