Was ist das für ein Leben?

■ Eine Erzählung des Syrers Wadi Ismandar

Khalid war traurig für seinen Vater, der um alle Hoffnung betrogen gestorben war. Er hatte Kinder geliebt, war jedoch nur mit einem gesegnet worden. Er hatte davon geträumt, daß dieser Sohn Lehrer wird, seine Wohnung ans alte Haus anbaut und in Frieden mit seiner Frau hier leben würde. Aber nichts davon hatte sich erfüllt. Khalid wurde nicht Lehrer, und die Wohnung blieb ungebaut. Er hatte sein Fischerboot und das Fangwerk verkauft und war an den Rand der Hauptstadt gezogen; das Leben mit seiner Frau war voller Streit, und er hatte sogar angefangen, sie zu schlagen.

„Was ist das für ein Leben für einen Menschen?“

Khalid fischte in seinen Hosentaschen nach etwas zu rauchen. Er zündete sich eine Zigarette an, unzufrieden mit der Last seiner Gedanken.

„Verdammter Arak. Bringt Erinnerungen.“

Khalid summte sich ein Lied vor, das sein Vater gern gehabt hatte. Ein Bilderstrom aus dem Leben seines Vaters begann zu fließen, wie ein zu schnell ablaufender Film. Er sah ihn lachen und singen. Schaute zu, wie er die Mutter schlug und hörte sein trockenes Husten. Sah ihn beim Fischen und hörte seine Klagen über zu wenig Geld. Er spürte seine Küsse auf seinem Gesicht. Und als er sah, wie er auf den Schultern der Fischersleute davongetragen wurde, hörte das Summen auf und Tränen strömten ihm aus den Augen.

„Abu Khalid Salah Al-Birri wird heute nach den Gebeten in der Sultan-Ibrahim Moschee beerdigt.“

In den Straßen verkündete ein Blinder den Leuten den Tod seines Vaters. Aber von 20.000 kamen nur 30, selbst Fischer, zur Beerdigung. Passanten und Kaufleute schauten auf den Leichenzug und schlossen wohl vom Fischgeruch darauf, daß hier nur irgendein Fischer zu Grabe getragen wurde. Zwar hielten sie es für angebracht, traurig den Kopf zu wiegen, aber keiner unterzog sich der Mühe, die Prozession zu begleiten oder den Sarg tragen zu helfen.

„Die Skandale der Reichen und die Tode der Armen: davon hört man nie.“

„Schau dir die Leute an. Wär‘ dies der Leichenzug für einen Fisch, ich wette, da wären sie alle dabei - das Bier zu tragen und für ihn zu beten.“

„Ja, Fisch mögen sie alle, aber keiner mag die Fischer.“

Khalid hörte viele solche Kommentare von den Fischersleuten während der Begräbniszeremonie, aber er verstand noch lange nicht, was sie bedeuteten.

„Selbst im Tod sind die Menschen nicht gleich.“

Khalid war, als sein Vater starb, noch nicht alt genug, um das alles zu begreifen.

Er hatte sich nur im Stillen darüber gewundert, daß, als die Gebete vorüber waren und der Sarg wieder auf den Schultern lag, sie ihn nicht auf den Friedhof unmittelbar hinter der Sultan-Ibrahim Moschee begruben. Der Effendi -Friedhof war eine Oase voller Jasmin und vieler anderer Blumen, in der die Toten viel Platz hatten und jedes Grab seine kleine Umzäunung. Ihre Grabsteine waren aus Marmor, geschmückt mit Blumen- und Koranvers-Gravierungen. Man kriegte Sehnsucht nach dem Tod. Der Leichenzug seines Vaters zog an diesem Friedhof vorbei, ohne daß jemand anzuhalten oder auch nur hinüberzuschauen wagte. Man zog weiter zu einem Friedhof, der beängstigend kahl aussah. Hier drängten sich die Gräber so eng, daß sie fast zu einem einzigen großen Grab wurden; als ob die Toten durch keine Höflichkeit mehr zurückgehalten wurden, stützte sich ein Grab auf die Schulter des Nachbargrabes, so daß sie zusammen aussahen wie eine Gruppe elender Menschen, die ihren Kummer miteinander teilen.

Khalid fühlte, daß sein Vater auf diesem Friedhof mit Menschen zusammensein würde, die er gekannt hatte. Seine Nachbarn dort in der Erde waren ein Süßigkeitsverkäufer, Abu Ali der Bäcker, der Seemann Hassan und die fromme alte Umm Mahmud; daneben noch einige Frauen, deren Gräber kahl waren. „Wer hat die einen über die anderen gestellt?“

Im letzten Jahr waren sie alle aus ihren Häusern gekommen für das Begräbnis von Kamil Effendi, und gleichzeitig waren nicht mehr als zwanzig Seeleute auf dem Begräbnis von Hassan, dem Altmatrosen. „Die Welt ist verrückt. Kamil Effendi hat Menschen gegessen, Sa'id sie ernährt. Und was ist das Ende?“

Khalid verglich sich für einen kurzen Moment mit Hassan, Kamil Effendis Sohn; Mädchen, Cadillac, Palast und große Ländereien gegen Häßlichkeit, kalte Nächte auf dem Wasser zum Fischfang, das dumme Gerede der Leute. „Sein Vater hat ihm Reichtümer hinterlassen, und ich ...“

Fast hätte er gelacht bei diesem Gedanken, der ihm zeigte, wie sehr die Welt doch auf dem Kopf stand, wie alles aus der Ordnung war. Die Welt brauchte einen Stoß, irgendeinen, er wußte nicht wie, um alles wieder an seinen alten Platz zu rücken, daß Menschen wieder gleich wären, in dem, wie sie leben, was sie essen und anziehen, und wie sie sterben.

Wadi Ismandar, 47, ist Autor vieler Kinderbücher, Theaterstücke, Kurzgeschichten und Romane. Er wurde im Oktober 1980 ohne Anklage oder Prozeß verhaftet und bis 1986 im al-Qala'a-Gefängnis von Damaskus festgehalten. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und war vor seiner Verhaftung Mitglied des Polit-Büros der verbotenen Kommunistischen Partei Syriens.