Demokratie auf der Fähre

■ Eine Kurzgeschichte über die Gefahren sorgloser Rede

Mustaffer Abayan

Anfangen, mein Herr, sollte ich mit der Tatsache, daß ich immer Punkt sechs Uhr abends Schluß mache. Ich räume den Schreibtisch auf, nehme meine Aktentasche und gehe direkt und ohne mich aufzuhalten zur Fähre. Um acht Minuten nach sechs bin ich schon da, und glauben Sie mir, das ist herrlich. Ich habe das ganze Schiff für mich allein. Ich kann sitzen, wo ich will, aufs Wasser schauen, auf die Möwen, die Stadt, die Menschen - bis um halb sieben. Punkt halb sieben legt die Fähre ab, und ich stecke mir eine Zigarette an. Das ist meine letzte Zigarette vor dem Abendessen. Mein Herr, ich bin seit acht Jahren Beamter. Acht lange Jahre sind meine Tage nach demselben Muster abgelaufen. Und verzeihen Sie die Erwähnung - selbst mein Stuhlgang ist regelmäßig.

Da saß ich also an diesem unseligen Abend auf der Fähre, rauchte meine Sechs-Uhr-dreißig-Zigarette, sah das Ufer sich langsam entfernen, als mich plötzlich - man kann es, mein Herr, nur so beschreiben - der Teufel ritt. Ich tat etwas, was ich noch nie getan habe: Ich zog mir die Schuhe aus. Also, wenn Sie meine ehrliche Meinung wissen wollen, ich habe gar nichts übrig für Leute, die sich auf der Fähre oder, wenn Sie so wollen, im Zug - die Schuhe ausziehen. Und für solche, die in Sandalen herumschlurfen... der Lärm, den sie damit machen... schakidi... schukidi... ehrlich, die finde ich auch unmöglich. Mein Herr, um die Wahrheit zu sagen: Meine Schuhe brachten mich schier um. Verzeihen Sie, wenn ich so intim werde, aber Sie müssen wissen, daß ich sie grad erst neu gekauft hatte - zwei infernalische Folterkämmerchen, die meinen Füßen die Hölle bereiteten, mein lieber Vater, man kann sich das gar nicht vorstellen.

Soll ich Ihnen was sagen? Die Leute, die Ihre Schuhe auf der Fähre ausziehen, haben nicht ganz unrecht. Wenn ein Mensch seine Beine ausstreckt und ein leichtes Lüftchen streicht zwischen seinen Zehen hindurch, dann entsteht eine erfrischende Kühle in seinem ganzen Körper, und er fühlt sich... wie soll ich sagen - neugeboren! Ich hoffe, Sie glauben mir aufs Wort, wenn ich Ihnen sage, daß alles Weh und Ach wie durch meine nackten Fußsohlen ausgetreten und verschwunden war, als wir schließlich in Moda ankamen. Die Menschen um mich herum schienen sch übrigens nicht im geringsten daran zu stoßen. Außer, daß ein Herr, der neben mir saß, gerade als wir in den Hafen von Moda einfuhren, sich zu mir drehte und sagte: „Sie drücken einfach zu sehr, nicht wahr?“

Ich lächelte ihn strahlend an und antwortete: „Ja, Sie wissen ja, was man sagt: Was man nicht im Kopf hat, muß man in den... naja, Füßen haben. Nun, was soll man machen. Das muß man eben aushalten.“

Die Reaktion des Mannes war außerordentlich. Der machte die Augen zu, öffnete seinen Mund und machte ein lautes Geschrei. „Was meinen Sie damit, man 'muß das aushalten‘? Wir sind, verdammt noch mal, doch keine ottomanischen Sklaven. Wir sind Kinder der Demokratie. Wir haben unsere Rechte! Wir haben unsere Freiheit!“

Wissen Sie, wie das ist, mein Herr, wenn man sich an irgendeine kleine Ungerechtigkeit schon lange gewöhnt hat und es plötzlich nicht mehr aushält und explodiert? Jedenfalls dachte ich, daß etwas Ähnliches in unserem Freund vorgegangen sein muß. Während ich mich bemühte, meine Schuhe so schnell wie möglich wieder auf die Füße zu kriegen, versuchte ich, seinen Ärger mit Entschuldigungen zu dämpfen. „Verzeihen Sie, wie konnte ich so gedankenlos handeln, mein Herr. Wenn ich gewußt hätte, wie sehr es Sie aus der Fassung bringt, dann hätte ich doch gewiß niemals meine Schuhe ausgezogen.“

Aber hörte unser Freund auch nur ein Wort von dem, was ich sagte? Nein, mein Herr, er hörte nichts. Kein Wort. Ich hatte kaum meine Entschuldigungen zu Ende vorgebracht, als er schon anfing zu heulen, als wäre er ein Hund, dem ich auf den Schwanz getreten habe. „Wir wollen keine Entschuldigungen! Wir wollen keine Mildtätigkeit! Wir wollen Demokratie! Echte Demokratie!“ „Bitte! Mein Herr! Wir wollen doch nicht streiten. Hören wir auf damit“, bat ich ihn.

„Eine freie Presse ist der Wächter der Demokratie“, war seine Antwort. „Mein Herr! Bitte! Fassen Sie sich. Man sieht schon her. Ich entschuldige mich vieltausendmal. Glauben Sie mir bitte, ich sehe ja ein, daß ich um nichts in der Welt diese höllischen Schuhe hätte ausziehen dürfen.“

Hierauf begann unser Freund buchstäblich zu schäumen. „Wen kümmern denn Ihre Schuhe? Zum Teufel mit Ihren Schuhen! Können Sie über nichts anderes reden als über Ihre Schuhe? Während unsere jungen Leute zu Hunderten gefoltert werden müssen wir da hier herumsitzen und Ihre verdammten Schuhe diskutieren?“

Hoppla! Plötzlich verstand ich: Unseren Freund kümmerten meine Schuhe nicht im geringsten. Er hatte politische Reden geführt, und ich hatte das nicht einmal gemerkt! Aber Sie wissen ja, mein Herr: mitgefangen, mitgehangen. Ich griff mir meine Aktentasche und floh. Ich lief runter aufs unterste Deck, schlüpfte in eine Bank am hintersten Ende... aber was könnte mir das schon helfen? Was geschehen war, war geschehen. Selbst wenn ich durch den Schornstein geflohen wäre, der Polizei würde ich nie entkommen. Sie würden mich fassen, mich wegschleppen und tagelang verhören, mich vor die Fernsehkameras zerren und die Bildunterschrift hieße: „Mitglied einer illegalen Organisation“..., ins Gefängnis werfen für weiß Gott wie viele Jahre. Mein Herr - finden Sie nicht auch, daß das eine grausame und zu harte Strafe ist für eine so winzige Verletzung meiner täglichen Routine? In anderen Worten: für das Ausziehen der Schuhe? Selbst wenn ich die Schuhe ausgezogen habe - wo ist da der Anteil meiner Frau an diesem Verbrechen, der meiner Kinder?

Als ich mir mit einem Taschentuch die Tränen trocknete, fiel mein Blick auf einen Mann, der mir gegenüber saß. Er machte seine Augen weit auf und sagte: „Sie spalten das Land und verhökern es scheibchenweise. Meinen Sie nicht auch?“ Ich schoß von meinem Sitz wie der Pfeil vom Bogen und rannte zum Vordersteven. Mit der Hand hielt ich meine Brust und rang noch nach Atem, als das Mädchen neben mir lächelnd sagte: „Ja, mein Herr, ich bin allerdings gegen die Todesstrafe.“ Inzwischen war ich ziemlich außer Puste. Mit quietschenden Sohlen und nach Luft schnappend brachte ich trotzdem so viel Entfernung zwischen sie und mich, wie menschlich nur irgend möglich. Kein Zweifel: Die Fähre war von Anarchisten gekapert worden.

Plötzlich hatte ich eine Idee. Ja, das war wirklich das beste: aufs Klo gehen und da bleiben bis Bostanci. Und auf wen traf ich bei der Klotür? Auf Emin Bey, unseren Kaufmann von nebenan. „Emin!“ sagte ich zu ihm, „geh nicht da raus. Das Schiff wimmelt von Anarchisten!“ Also gingen Emin Bey und ich ins Klo. Wir verriegelten die Tür und warteten und schwiegen. Schließlich fragte Emin Bey: „Haben sie einen umgebracht?“ „Nein, umgebracht haben sie keinen. Oder jedenfalls habe ich nicht gesehen, daß sie einen umgebracht haben.“ „Gut. Also haben sie Bomben?“ „Nein. Und sie haben auch keine Gewehre oder sonst etwas.“ „Aber das ist doch unmöglich. Anarchisten ohne Waffen gibt es doch gar nicht, Mensch! Vielleicht hast du dich geirrt.“

„Nein, ich habe mich ganz bestimmt nicht geirrt. Mit meinen eigenen Ohren habe ich es gehört - sie haben über Freiheit gesprochen... Demokratie und all das.“ Als er das hörte, fing Emin Bey schrecklich an zu lachen. Mein Herr, es schien, daß meine Furcht unbegründet war. Nach Emin Bey war es so, daß die Regierung dabei war, den Zugriff etwas zu lockern und milder zu werden. Endlich war Demokratie zu uns unterwegs... das war es. Ich nahm Emin Bey beim Wort. Im festen Glauben, daß die Demokratie angebrochen war, kam ich aus der Toilette.

Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, daß ich mit einem Mann auf dem Deck über die Schwierigkeiten sprach, von einem Beamtengehalt zu leben. Seine Antwort war jedoch beängstigend. „Die Reaktion hat eingesetzt“, sagte er. Deshalb also ließ ich Emin Beys Mantelärmel nicht mehr los, als wir endlich von Bord gingen. Wenn Polizei käme, würde ich einfach sagen: „Emin Bey hat mich aufgehetzt!“ Aber da war kein Polizist in Sicht. Es passierte nichts - an dem Abend. Ach, mein Herr, nicht an dem Abend, aber am nächsten Morgen...

Ich saß auf der Fähre. Gerade hatte ich meine Acht-Uhr -dreißig-Zigarette ausgemacht und putzte meine Brille, als ich aufsah - ich erblickte niemand anders als unseren Freund vom letzten Abend, denselben Mann, der mich mit seinem Gerede über Demokratie so geängstigt hatte. Ich lächtelte ihn an. „Guten Morgen“, sagte ich. Ohne ein Wort drehte er sich weg. Er hatte mich offenbar nicht erkannt. „Mein Herr“, sagte ich. „Erinnern Sie sich nicht? Demokratie!“ Wieder tat er so, als ob er nicht gehört hätte. Ich sprach also lauter und rief: „Freiheit! Freiheit!“

Unser Freund stand heftig auf und floh zum anderen Ende des Schiffs. Woraufhin ich mich an den neben mir sitzenden Menschen wandte und zu ihm sagte: „Mal sehen, was passiert. Wenn die Demokratie angebrochen ist, wollen wir doch mal sehen, ob sie dann immer noch ungestraft hundert Lira für ein Glas Tee verlangen können.“ Aber bevor ich noch zu Ende gesprochen hatte, war er schon aufgestanden und weg. Mein Herr, ich fühlte mich langsam, als hätte ich Flöhe. Mit anderen Worten: sehr ungemütlich. Den Rest der Fahrt sprach ich mit keiner Seele mehr über Demokratie oder Freiheit oder sonst irgend etwas.

Dann griffen mich zwei Uniformierte rechts und links am Arm, gerade als ich die Fähre verlassen wollte. Wenn man jedoch so lange in Istanbul gelebt hat wie ich, weiß man Bescheid über Taschendiebe. Als die zwei mich also griffen, rief ich sofort: „Polizei!“ Und der eine sagte: „Schrei nicht, du Idiot. Wir sind die Polizei!“

Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Aber ich beschloß, daß ich die Angelegenheit mit dem Vorgesetzten auf der Wache klären würde. Aber, mein Herr, hat sich das etwa als möglich erwiesen? Leider hat es das nicht. „Kerl! Was denkst du dir dabei, in deinem Alter Anarchist zu werden!“ schrie er mich an. Mir rutschte das Herz in die Hose. „Aber ich habe doch nur die Wörter Demokratie und Freiheit gesagt.“ Der Vorgesetzte schien etwas besänfigt. Er fragte mich: „Haben Sie heute morgen Radio gehört?“ „Ja, das habe ich“, antwortete ich. „Ich habe die Wettervorhersage gehört. Da hieß es, daß es abends regnen soll, deshalb nahm ich den Regenschirm mit.“

„Habt ihr das gehört?“ brüllte er. „Er sagt, er hat den Regenschirm mitgenommen! Menschenskind! Ist heute morgen etwa keine Erklärung im Radio gewesen? Und zwar des Inhalts, daß innere und äußere Feinde wieder angefangen haben mit ihrer Agitation? Und daß deshalb die Demokratie hinausgeschoben worden ist auf einen späteren Zeitpunkt, der rechtzeitig bekanntgegeben wird? Daß die Regierung statt dessen um ganze vier Grade härter werden wird... he, ist all das etwa nicht heute morgen im Radio bekanntgegeben worden?“

„Aber erst gestern noch hat auf der Fähre jedermann von Freiheit und Demokratie gesprochen!“ „Das war gestern. Gestern haben innere und äußere Feinde auch noch nicht agitiert. Das Regime war weich. Jetzt haben sie mit dem Agitieren wieder angefangen, und deshalb ist das Regime wieder härter geworden.“

Mein Herr, wenn ich jetzt daran denke, was ich dann gesagt habe, kann ich kaum glauben, daß mir eine solche Frechheit passieren konnte. Wie konnten mir solche Wörter überhaupt in den Sinn kommen - geschweige denn über die Lippen? Ich verstehe das immer noch nicht. Was ich gesagt habe, war folgendes: „Was für eine Regierung ist das überhaupt? Mal ist sie weich, dann wieder hart. Mal ist sie großzügig, dann greift sie wieder durch. Ich will Ihnen mal was sagen: Wenn die Regierung mit dem Durchgreifen gegen uns so weitermacht, wird einmal der Tag kommen, an dem wir gegen die Regierung durchgreifen.“ Ja, das waren genau meine Worte. Ich bin jetzt schon sechs Tage hier. Sagen Sie, mein Herr, wofür sitzen Sie?

(Übersetzung aus dem Englischen)

Mustaffer Abayan ist 1956 in Ankara geboren. Er arbeitet als Journalist in der Türkei und gewann bereits mehrere Preise für seine Satiren. Dieser Text erschien zuerst im August 1986 in 'Cumhuriyet‘.