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„Wenn das Fidel wüßte“

Am 1.Januar 1959 nahmen die von Fidel Castro angeführten Guerilleros die kubanische Hauptstadt ein / Die Revolution hatte gesiegt / Doch die Insel steckt heute in einer tiefen Krise  ■  Von Wilfried Huismann

April 1961. Die Revolution war gerade zwei Jahre alt. Mitten in der Alphabetisierungskampagne flog die Konterrevolution auf Geheiß der CIA Bombenangriffe gegen Havanna. Fidel Castro antwortete promt: Unsere Revolution wird ab sofort sozialistisch. Das Bündnis der revolutionären Bewegung mit den Mittelschichten zerbrach, und der Staatssektor regelte das Leben bis in den letzten Winkel der Gesellschaft. Selbst die armseligsten Trödelläden wurden verstaatlicht. Es galt die Binsenweisheit: Je mehr Verstaatlichung, desto mehr Sozialismus. Das kubanische Volk sah mit freudiger Erwartung der baldigen Einführung des Paradieses entgegen.

Heute, am 30.Jahrestag des Sieges der Rebellenarmee, ist Kuba mit einer zweifachen Krise konfrontiert: Als Entwicklungsland mit der des Weltmarktes und als sozialistisches Land mit der theoretischen und praktischen Krise des realen Sozialismus. Die Auswirkungen beider Krisen akkumulieren sich. So hat Gorbatschows Perestroika fatale wirtschaftliche Folgen für Kuba. Wenn die sowjetischen Außenhandelsunternehmen in Zukunft gewinnorientiert und autonom am Weltmarkt handeln dürfen, wird es für Kuba keine politischen Preise für Zucker, Erdöl und Kredite mehr geben. Dann dürfte der Lebensstandard in Kuba rapide abnehmen. Denn allein die Subvention des Zuckerpreises bringt den Kubanern rund vier Milliarden Pesos ein, das ist ein Drittel des gesamten Staatshaushaltes.

Noch sind mit der UdSSR Übergangsregelungen ausgehandelt worden, aber die „sozialistische Marktwirtschaft“, in Castros Augen sowieso eine schmähliche Kapitulation vor dem Kapitalismus, wird auch die Beziehungen der sozialistischen Staaten untereinander auf eine geschäftliche Basis stellen. Internationalismus ade?

Sowjetische Ökonomen hingegen halten Kubas Wirtschaftsprobleme in erster Linie für hausgemacht. Wladislaw Tschirkow, Kommentator der sowjetischen 'Neuen Zeit‘, kritisierte die „geringe Arbeitsproduktivität“ in Kuba, „Gleichmacherei“, zu hohe Militärausgaben und die Wirkungslosigkeit des „moralischen Faktors“ in der Volkswirtschaft. Tschirkows Hinweis auf die hohen Preise, die die UdSSR für Zucker, Nickel und Zitrusfrüchte aus Kuba zahlt, provozierte Fidel Castros Stellvertreter, den Altkommunisten Carlos Rafael Rodriguez, zu einer Antwort in Form eines Leserbriefes: „Es ist z.B. unberechtigt“, schrieb er im sowjetischen Wochenmagazin, „die Preise, zu denen kubanischer Zucker angekauft wird, mit denen auf dem sogenannten Weltmarkt zu vergleichen, wie das die 'Kubanologen‘ und manche Experten aus sozialistischen Ländern tun. Man darf nicht vergessen, daß die EG und die USA für Zucker, den sie importieren, nicht fünf bis sechs Cent, d.h. den Preis des sogenannten Weltmarktes, sondern ca. 20 Cent das Pfund zahlen.“

Kuba begreift die Vorzugspreise nicht als Gnadenakt, sondern als Grundrecht der unterentwickelten Länder, für dessen Durchsetzung die Bewegung der Blockfreien im Rahmen einer neuen Weltwirtschaftsordnung kämpft.

Mitarbeiter des Moskauer Institutes für Weltwirtschaft behaupteten in einem Expertengespräch für die 'Neue Zeit‘ im Oktober 1988, ohne Kuba direkt beim Namen zu nennen: Der „übermäßig aufgeblähte und wenig kompetente Staatsapparat, der obendrein von Korruption zerfressen ist“ und die „rigide Gängelung des privaten Sektors“ seien für die wirtschaftliche Stagnation in den nichtkapitalistischen Entwicklungsländern veantwortlich. Ein Rundschlag, der in Havanna die Stimmung auf der Straße trifft. Immer wieder hört man: „Fidel ist ein Idealist, seine Wirtschaftspolitik ist lebensfremd. Aber er ist ein Unberührbarer. Schließlich hat er unsere Revolution gemacht. Seine Ideale sind gut. Wir bräuchten viele Fidels, um sie durchzusetzen. Leider haben wir nur einen.“

Die kubanische Führung reagiert auf die Theorie der „sozialistischen Marktwirtschaft“ verstimmt. Für Castro bedeutet sie Preisgabe der Revolution: Wir sind ein Zwittervolk: 400 Jahre Kolonie, ein halbes Jahrhundert Halbkolonie. Das einzige, was sie uns beigebracht haben, war Raub, Korruption, mangelnde Disziplin und Schurkereien. Erst die Revolution hat eine Skala großer Werte geschaffen. Sie sind das einzige Bindemittel, das wir haben.“ An anderer Stelle führt er aus: „Es ist ein Irrtum, zu glauben...'daß der Sozialismus mit materiellen Anreizen aufgebaut werden kann, mit materiellen Anreizen wird nur und ausschließlich der Kapitalismus errichtet.“

Auf seiner Rede zum 35.Jahrestag des Sturms auf die Moncada -Kaserne, mit dem die Revolution 1953 ihren Anfang nahm, gab er noch eins drauf. Mit „Instrumentarien, die nach Kapitalismus riechen“, könne man nichts verbessern. Dann kam er zu der Schlußfolgerung: „Wir haben hier absolut nichts zu verbessern, wir haben ein demokratisches System.“

Die Niederlage der Reformer

Die 1986 eingeleitete kubanische Politik der „rectificacion“, der Korrektur von Irrtümern, ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil der Perestroika. Sie stellt das zentralistische Wirtschaftssystem nicht in Frage, will es aber mit einer großen moralischen Anstrengung von Korruption, Ineffizienz und Machtmißbrauch befreien. Außerdem muß alles weichen, was nach Marktwirtschaft riecht. Die freien Bauernmärkte und der freie Wohnungsmarkt sind verboten worden. Private Handwerker erhalten keine Lizenzen mehr. Weil viele Prämien für „gute Arbeitsleistungen“ sich nicht an der Produktivität des Betriebes oder gar an den Leistungen selbst orientierten, sondern an phantasievoll manipulierten Bemessungsdaten, wurde ein Großteil der materiellen Anreize ebenfalls abgeschafft. Viele Arbeiter haben jetzt nur noch die Hälfte in der Lohntüte.

Unter dem Hinweis auf die „neuen Reichen“, die sich am Markt eine goldene Nase verdient haben, hat Castro die Wirtschaftsreformer entmachtet und das Land auf die Linie der „revolutionären Offensive“ zurückgerufen, die er am 13.März 1968 in einer Rede verkündet hatte: „Solange es Privilegien gibt, wird es bis zum letzten Tag Leute geben, die an diesen Privilegien hängen - und dieser letzte Tag ist nah, dieser letzte Tag ist nah! Wir müssen eindeutig und unwiderruflich erklären, daß wir uns vornehmen, jede Erscheinungsform des Privathandels auszurotten.“

Zurück zu Che

Heute haben die Wirtschaftstheorien Che Guevaras in Kuba erneut Konjunktur. In der ökonomischen Debatte der Jahre 1963 bis 1965 hatte sich Che als Industrieminister gegen die Verfechter der „wirtschaftlichen Rechnungsführung“ durchgesetzt. Für ihn und Fidel Castro galten ab da der „Enthusiasmus“ des Volkes, „zentralistische Planung“ und das „Bewußtsein der Arbeiter“ als die Grundlagen der Produktivität.

Das Bewußtsein bestimmt das Sein. Ein schöner Irrtum. Für das Kuba des Jahres 1988 außerdem ein gefährlicher. Denn der Appell an die Moral stößt im Gegensatz zu Ches Zeiten nicht mehr auf Begeisterung, sondern auf Skepsis und passiven Widerstand. Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Realität ist zu groß.

Zwar sind alle Kubaner empört, wenn Fidel aufdeckt, daß Ärzte für 1.500 Pesos Frührentenbescheide verkaufen, oder daß LKW-Fahrer gegen Dollar alle möglichen Privattransporte durchführen, aber keiner hat etwas gegen den schwarz arbeitenden Schuhmacher, der ohne Wucherpreise die Schuhe eines ganzen Stadtviertels repariert. Auf den staatlichen Schuhservice muß man ein Jahr warten. Der Kleinkapitalismus gedeiht trotz aller Verbote.

Er ist vital, weil er viele Bedürfnisse befriedigen kann. In die Illegalität gedrängt, saugt er der Staatswirtschaft das Mark aus und vertieft die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft.

Die „Krämerseelen“

der Arbeiter

Nach Castros Auffassung hat die Jagd nach Geld nicht nur die Funktionäre, sondern auch die Arbeiterklasse korrumpiert. Sie habe eine „Krämerseele“ entwickelt: Viel verdienen, wenig arbeiten. Sicher, in vielen Betrieben wird nur drei oder vier Stunden am Tag gearbeitet, aber beweist das die schlechte Arbeitsmoral der Arbeiter? Ist nicht die Arbeitsmoral ein subjektiver Reflex auf die Anarchie des Staatssektors? Oft fehlen Ersatzteile oder Rohstoffe, die Maschinen sind kaputt. Viele Arbeitsplätze sind doppet besetzt, und die höchste Kunst des Proletariers besteht darin, Geschäftigkeit vorzutäuschen, obwohl er nichts zu tun hat.

Die Monopolstellung des Staates in fast allen Branchen hemmt die Produktion und führt zum Ausstoß qualitativ schlechter Waren. Ob Schuhe oder Elektrogeräte nur drei Wochen halten, ist vielen Betriebsfunktionären ganz egal, ihr Erfolg und ihre Aufstiegschancen werden an den kalten Planerfüllungszahlen gemessen. Die zumeist unrentablen Staatsbetriebe müssen außerdem noch die mächtige Bürokratie miternähren, die trotz ständiger Kampagnen gegen den „Bürokratismus“ munter weiter wächst und immer gefräßiger wird.

Daß Direktoren illegale Geschäfte machen, daß ein Großteil der Bierproduktion, das beste Fleisch und Gemüse in Schwarzmarktkanälen verschwinden, ist seit langem bekannt. Aber daß jetzt zum ersten Mal auch ein Minister und enger Berater Fidels zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er ein Unternehmen besaß, das gegen Dollar private Luxuswohnungen renovierte, hat bei vielen einen Schock ausgelöst. „Armer Fidel“, sagen die Leute, „wenn seine Ideen bei den unteren Funktionären ankommen, sind sie längst in ihr Gegenteil verkehrt worden.“

Die Treuen sind die Dummen

Die Kubaner sind der Versprechungen und des Wartens auf goldene Zeiten überdrüssig. Der Lebensstandard sinkt. Stundenlanges Warten in Büros, auf den Bus, auf das Brot, auf das Trinkwasser, die große Wohnungsnot in Havanna zermürben die Nerven. Zehntausende Jugendliche sind arbeitslos, weil sie keinen ihrer Ausbildung angemessenen Job finden. Das soziale Klima ist aggressiv geworden. Die Polizei ist um freiwillige Sondereinheiten aus Parteimitgliedern verstärkt worden, um des Schwarzmarktes und der Kriminalität Herr zu werden. Der Alltagsstreß ist so groß, daß er die Errungenschaften der Revolution vergessen macht. Welcher kubanische Jugendliche kann sich wirklich vorstellen, daß auf der philippinischen Zuckerinsel Negros Tausende von Menschen auf der Straße verhungern, weil der Zuckerweltmarkt in der Krise ist und die Zuckerkonzerne ihre Mühlen einfach schließen?

Auch die Treuen beginnen zu zweifeln. Zum Beispiel Celia, eine hohe Provinzfunktionärin der Partei, bescheiden und makellos. Ihr Sohn macht Devisengeschäfte mit Touristen und Diplomaten. Er besorgt den Verwaltern der Versorgungseinheiten und Staatsläden in seiner Kleinstadt Schuhe, Kleidung und Unterhaltungselektronik aus den Cubaturshops. Dafür ist er bestens mit Bier, Fleisch und anderen Genüssen des Lebens versorgt. Er pfeift auf den „Neuen Menschen“. Mit seiner Mutter lebt er im heftigen Streit. Er versteht nicht, daß sie ihre politischen Beziehungen nicht ausnutzt, um Farbe und Zement für das baufällige Haus zu erhalten. Sie setzt sich aus Prinzip ganz hinten auf die Liste. Mit dem Resultat, daß immer irgendjemand mit Beziehungen vor ihr dran ist. Diejenigen, die die revolutionären Losungen ernst nehmen, sind oft die Dummen. Nach Jahren vergeblichen Wartens hat die revolutionäre Mutter ihren nichtsnutzigen Sohn jetzt damit beauftragt, ihr einen Sack Zement aus dem Diplomatenshop zu besorgen.

Die Revolution als

Geschenk an das Volk

Trotz aller Kritik an der Omnipotenz des Staatsapparates: Er ist tatsächlich der Träger aller wichtiger Veränderungen gewesen. Der Staat war die Revolution. Die Guerilla an der Macht hat all das in weniger als einem Jahrzehnt mit Elan verwirklicht, wozu die kubanische Bourgeoisie mit ihrem Operettenstaat in 100 Jahren nicht fähig war: Einen modernen Staat, eine Landreform, ein nationales Gesundheits- und Bildungssystem, die politische Gleichstellung der Rassen, eine nationale Industrialisierungspolitik und eine für Lateinamerika einmalige Rechtssicherheit. Niemand in Kuba hat Angst vor Staatsterror, vor Todesschwadronen oder der Folter.

Deswegen erscheint der revolutionäre Staat und sein Schöpfer Fidel den Kubanern als Inkarnation von Tugend und Reinheit. Die Genesis der kubanischen Revolution als das Werk einer kleinen Zahl von Helden ist aber auch ihr Problem: Die Revolution als Geschenk an das Volk, das sich ihrer erst noch als würdig erweisen muß.

Mit der Revolution wurde der Autoritarismus geboren. Mangels einer demokratischen Kultur, und auch, weil fast der gesamte gebildete Mittelstand das Land aus Furcht um sein Eigentum verlassen hatte, wurden die Methoden des Guerillakampfes, also militärische, auf die zivile Gesellschaft übertragen. Die ständige militärische Bedrohung durch die USA hat die Vorherrschaft des Soldatischen in der kubanischen Gesellschaft noch verstärkt: Die Kommandanten legen die Marschrichtung fest, alles andere ist eine Frage der Mobilisierung. In diesem Klima gedeihen Duckmäusertum und Mittelmaß.

Glasnost in Kuba?

Doch gibt es bereits Zeichen dafür, daß hinter den Kulissen um eine politische Öffnung gerungen wird. Die „rectificacion“ ist mehr als ein Schuß vor den Bug der kubanischen Perestroika-Anhänger. Sie ist auch ein Angriff auf verkrustete Machtverhältnisse. Wie schon bei mehreren „Antibürokratisierungskampagnen“ macht sich Fidel zum führenden und einzigen Oppositionspolitiker des Landes und erklärt einer Bürokratie den Krieg, an deren Spitze er steht. Sein Kampf gegen Vetternwirtschaft, Bereicherung und Ineffizienz ist durchaus ernst gemeint. Doch die „rectificacion“ hat nur eine Chance, wenn sie „unten“ Unterstützung findet. Auf den Kongressen der Schriftsteller und Journalistenverbände fordert Castro die schreibende Zunft Kubas zu mehr Mut und Kritik an Mißständen auf. Da die Korruption auch schon weite Teile der Partei erfaßt habe, könne nur das Entstehen einer „öffentlichen Meinung“ die Revolution retten. Der Kritik, die Fidel vor jetzt zwei Jahren gerufen hat, sind inzwischen Beine gewachsen, und sie läuft selbständig, wenn auch noch vorsichtig. Schon tauchen in der Zeitung Namen von Günstlingen auf, die nur dank paternalistischer Fürsprachen zu Rang und Würde gekommen sind.

Immer häufiger sind Betriebsversammlungen kein leeres Rechenschaftsritual mehr. Arbeiter weigern sich, durch mehr Sonderschichten die Fehler der Kader wieder auszubaden. Einmal ließen Arbeiter einer Stahlfabrik ihrem Zorn sogar vor den Kameras des Staatsfernsehens freien Lauf: Es habe gar keinen Zweck, unfähige Direktoren aus dem Amt zu jagen, weil sie dank ihrer guten Beziehungen bald in einer anderen Provinz wieder auf dem gleichen Posten sitzen würden.

Der Zuschauer, der die „rectificacion“ bislang als eine der üblichen Kampagnen über sich hatte ergehen lassen, rieb sich verwundert und erregt die Augen: Die Revolution, nackt und ohne Schönfärberei auf dem Bildschirm. Doch dann legt er die Stirn in Falten: Wenn das Fidel wüßte!

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