Der blind gewordene Spiegel

■ Ein Buch über Erfahrungen in der reformierten italienischen Psychiatrie

Solange es keine Revolution gibt, muß es wenigstens die Asozialität geben“, wurde unlängst der italienische Psychiater Franco Rotelli in dieser Zeitung zitiert. Rotelli leitet die reformierte Psychiatrie von Triest. Seine Aussage ist nicht zynische Festschreibung; sie birgt ein Moment der Solidarität mit denen, die von der bestehenden Gesellschaft als verrückt ausgegrenzt werden - immer noch, auch in Italien. Die Öffnung der italienischen Anstalten und deren Ersetzung durch dezentralisierte ambulante Strukturen in den 70er Jahren hat die Gemüter der europäischen Linken bewegt und - im Gefolge Franco Basaglias - die Anti-Psychiatrie -Diskussionen angeheizt. Die Grenzen zwischen Wahnsinn und Vernunft haben sich verschoben. Und doch hat davon vielleicht eher die Seite der Vernunft profitiert, indem sie sich Teile der bislang Ausgegrenzten einverleibte, als die Seite des Wahnsinns, der - wenngleich in anderer Weise ausgegrenzt und asozial bleibt.

An dieser Stelle setzt das Buch von Wiebke Willms ein. Es beschreibt, analysiert und dokumentiert fotografisch ein gemeinsam mit dem Bildhauer Herbert Maria Juny durchgeführtes künstlerisches Projekt im Rahmen der reformierten Psychiatrie von Triest. Es handelt sich um den Zeitraum 1981-82. 1981 - zehn Jahre, nachdem Franco Basaglia Direktor des Psychiatrischen Provinzkrankenhauses von Triest geworden war. Unterstützt durch eine progressive Reformgesetzgebung wurde das völlig überfüllte Psychiatrische Provinzkrankenhaus geöffnet, die Zwangsinternierung abgeschafft und den Entlassenen ein Gaststatus zugewiesen (1973), dezentrale Zentren mit dem Angebot verschiedenster sozialer und medizinischer Dienstleistungen eingerichtet, therapeutische Wohngemeinschaften, Mensen und Werkstätten gegründet, Arbeitsplätze und Wohnungen für die Entlassenen gesucht.

1981 war diese Pionier-Phase und leider auch die Euphorie vorbei. Alte Hierarchien waren zusammengebrochen, neue Polaritäten begannen sich herauszubilden, denn „die restlose Zerstörung des psychiatrischen Kontrollnetzes figuriert nur als Utopie oder nie erreichbarer Grenzwert“.

Zwei indirekte Folgen der Reform für San Giovanni, den aus verschiedenen Gebäuden bestehenden Komplex, der sich in einem wunderschönen, noch in der Zeit der k.u.k.-Monarchie angelegten Park befindet (nicht nur die Fotos, sondern auch die Karten und Lagepläne des Buches machen das anschaulich), zwei Folgen sind hier hervorzuheben: diejenigen ehemaligen Patienten, die sich nach der Öffnung der Anstalt nicht mehr ins Leben der Stadt eingliedern konnten oder wollten, leben heute als Gäste (ospiti) in kleineren Wohneinheiten auf dem ehemaligen Anstaltsgelände: es sind vor allem alte Leute. Und aus deren Erzählungen bezog die Autorin erst Hinweise auf eine kunsttherapeutische Werkstätte der Triester Anstalt in den 50er Jahren.

Denn wie manche Revolution hat auch die Ära Basaglias einen neuen Kalender eingeführt und eine neue Geschichte der Institution beginnen lassen. Die alte lebt unterschwellig im Gedächtnis der ehemaligen Hospitalisierten, der alten Gäste, weiter, wird aber von der Institution nicht systematisch dokumentiert und archiviert. Es wurde nichts getilgt, es wurde nur verschüttet, dem zugänglich, der danach sucht und suchen muß.

Daß Wiebke Willms diese kurzatmige Historie problematisiert, zeichnet ihre Untersuchung vor vielen anderen aus, die einfach nur auf Anti-Psychiatrie „abgefahren“ sind. Von dieser Situation im Jahre 1981 hatte das Projekt von Willms und Juny auszugehen. Die dabei gemachten Erfahrungen werden eingeordnet nicht nur in die Diskussionen um Gesundheit und Krankheit, sondern auch in die zeitgenössischen Debatten um Kunst und Nicht-Kunst, was die Brisanz des Buches ausmacht. Das Projekt verstand sich nicht als kunsttherapeutisches, sonders als freies Angebot, in einem Atelier auf dem Gelände von San Giovanni Materialien und/oder Anleitung für den bereitzuhalten, der etwas zeichnen, malen oder in Ton formen wollte. Es entstanden - wie der umfangreiche Bildteil dokumentiert sehr unterschiedliche Arbeiten. Der unvoreingenommene Betrachter muß bei den zarten Tier- und Pflanzenzeichnungen eines istrianischen Bauern unwillkürlich an die Schriftzüge eines Cy Twombly oder bei den in mehreren Phasen dokumentierten Farbkompositionen von Anna Maria Kains an Bilder des Informel denken. Diese Frau sang häufig beim Malen, und so war es denn ein Schlager von Adriano Celentano, der dem Buch den Titel gab: „Volare nel blu“, Fliegen ins Blau.

Die Arbeiten sind alles andere als kindlich oder kunstgewerblich bieder; es fehlt, wie die Autorin hervorhebt, der Kitsch. Die klaren Formen reduzieren aufs Wesentliche, sie „schweben gleichsam zwischen Abstraktionsstufen oder überspringen diese“. Mit diesem Moment der kargen, flüchtigen Zeichnung, die eher Zeichen setzt, - so Willms und auch der italienische Kunstkritiker Bonito Oliva - treffen sich die Arbeiten aus San Giovanni mit der zeitgenössischen Transavanguardia: „Die Zeichnung erlaubt Anspielungen ohne den Charakter des Endgültigen, erlaubt das Eingeständnis des Gemütszustandes und der Geistesverfassung ohne das Bedürfnis nach definitiver und kategorischer Bestimmung“ (Oliva). Trotz dieser Ähnlichkeit sind die Arbeiten der ehemaligen Patienten für Willms deshalb nicht der Kunst der Transavanguardia zuzuschlagen: nicht etwa, weil es ihnen an ästhetischer Qualität mangelte, sondern weil die existentiellen Bedingungen ihres Entstehens andere sind: „Der hilflose und unwissende ehemals Hospitalisierte hält im sozialen Feld den Vergleich mit der wendigen, raffinierten künstlerischen Subjektivität, die das (aus)zuspielen weiß, was dem ersteren Bürde ist, nicht stand.“ Wer die Bürde des anderen, die Zersplitterung der Subjektivität, umfunktionieren und entwenden kann, braucht diesen nicht mehr als Spiegelbild: „War dem identitätsstarken Subjekt der Wahn(sinnige) Schreckbild und Faszinosum, so hat er dies für das fragmentierte, vagabundierende Subjekt, das auf die Ziele und Dogmen verzichtet hat, weitgehend eingebüßt. (...) Es scheint, als würde der Spiegel, den das aufgekratzte künstlerische Subjekt lange vom Irren vorgehalten zu bekommen meinte, langsam erblinden.“

Die Kunst(geschichte) kann den Wahnsinnigen also bereits „abschreiben“: sie hat ihn zum Teil einverleibt, ihn verbraucht, vermarktet, verkauft und musealisiert, wie Willms es in ihrer Kritik an der Präsentation von Jean Dubuffets Sammlung des Art brut in Lausanne zeigt. Was ist dagegenzusetzen? Die Stärke von Willms Interpretation der Triester Arbeiten liegt gerade darin, daß sie zwar deren doppelte Differenz - sowohl zur Kunst als auch zum psychopathologischen Ausdruck - behauptet, hier aber keine neue positive Kategorie aufstellt. Würde damit doch etwas festgeschrieben, was nicht festschreibbar ist, sondern Ausdruck einer singulären Zeiterfahrung, wie sie in der Langeweile der (geöffneten) Anstalt entsteht. Und die Langeweile ist ja bekanntlich der „Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet“, um dann ins Blau zu fliegen.

Marianne Karbe

Wiebke Willms, Fliegen ins Blau“. Erfahrungen zwischen Kunst und Therapie. 255 Seiten, 58 Abb. von Herbert Maria Juny, AG SPAK, München 1988, 30 Mark