Die Geschichte des Antisemitismus

■ Aufgezeichnet im neueröffneten Jüdischen Museum in Frankfurt

Computer, Datenmonitore, Bildplatten, Videogeräte, Großbildprojektoren und Audiogeräte - das High-Tech -Zeitalter hält Einzug im Frankfurter neuen Jüdischen Museum.“ Das Frankfurter Presse- und Informationsamt, geübt in der Präsentation Frankfurter Spitzenleistungen, schlug auch am 9.November 1988 wieder zu. Stunden, bevor Bundeskanzler Kohl das erste bundesdeutsche Museum jüdischer Geschichte eröffnete, einen Tag, bevor Bundestagspräsident Philip Jenninger seine be-denkliche Gedenkrede zur Pogromnacht des 9.November 1938 hielt, trumpften die beamteten Öffentlichkeitsarbeiter der aufstrebenden Mainmetropole in einer Pressemitteilung auf: Durch „gezielten Videoeinsatz“ und variierbare „Softwareinstallationen“ werde der „Museumsausflug effektiver„; mit Hilfe „audiovisueller Medien“ würden „rund 80 Prozent des Gesehenen und Gehörten behalten“.

Wäre also Auschwitz unmöglich gewesen, wenn die Deutschen schon 1938 über „elektronische Lexika“ und jederzeit abrufbare Video-Informationen verfügt hätten, die ihr historisches Gedächtnis bis zu 80 Prozent hätten auffrischen können?

Schon ein erster Blick in das vor gut acht Wochen eröffnete Museum läßt aufatmen: Der Tonfall deutscher Leistungsbereitschaft und Rekordsucht, Ästhetik und Semantik der Frankfurter Olympiabewerbung für das Jahr 2004, haben keinen Eingang in die Konzeption des Jüdischen Museums gefunden, für das die Stadt 28 Millionen Mark ausgegeben hat. Der jugoslawische Architekt Ante Josip von Kostelac, zuständig für die architektonische Planung und das museographische Design im ehemaligen Rothschildschen Palais am Untermainkai, hat der Versuchung widerstanden, das 1821 fertiggestellte und später erweiterte klassizistische Gebäude einem postmodernen Styling zu unterziehen.

Gerade die Absicht, Vergangenheit und Gegenwart in einen Zusammenhang zu stellen, so Kostelac, verbot das „Vokabular der Postmoderne“. Die notwendigen umfangreichen Umbauten und Substanzerhaltungsarbeiten orientierten sich an dem Ziel, architektonische Konzeption und Ausstellungsgestaltung zu integrieren.

Hell und licht präsentiert sich die Eingangshalle mit Cafe und kleinem Buchladen. Auch wer sich nicht erst per Knopfdruck am Monitor erklären lassen will, was ihn erwartet, findet leicht die Treppe zum ersten Stock, wo Teil eins der historischen Dauerausstellung beginnt: 700 Jahre jüdischer Diaspora (von 1100 bis 1800). Nach babylonischer, persischer, alexandrinischer und römischer Besatzung im Palästina der Urväter nun Verfolgung und Ghettoisierung in Europa. In abwechslungsreicher, übersichtlicher und prägnanter Gestaltung wird ein riesiger und komplexer Geschichtsabschnitt skizziert - von den Anfängen der jüdischen Gemeinschaften im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ bis zur Frankfurter „Judengasse“, ein 300 Jahre lang währendes Ghetto, das erst 1811 seine schicksalhafte Bedeutung verlor. Bis dahin hatte Ludwig van Beethoven die meisten seiner Symphonien komponiert. Und immer noch mußten die Frankfurter Juden um Sondergenehmigungen der christlichen Obrigkeit nachsuchen, um an Sonn- und Feiertagen die Judengasse verlassen zu können - ein Modell nach Bauplänen aus dem Jahre 1711 im Maßstab 1:50, über einen Steg „begehbar“, steht im optischen Mittelpunkt dieses Ausstellungsteils, dem schon das Gesamtkonzept anzusehen ist: Visualisierung statt Musealisierung: Dekorationen, Figurinen, Bilder und Informationstafeln ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, ohne den Besucher zu gängeln. Die Didaktik der historischen Informationen erschlägt nicht die Ästhetik und umgekehrt. Während die Kids einer Frankfurter Schule vor der „Ton-Bild -Präsentation“ des Frankfurter Passionsspiels von 1493 stehen, von dem eines der vielen Judenpogrome in der freien Reichsstadt ausging, liest ein anderer Besucher die in klarer Typographie gesetzten Worte aus einer Straßburger Chronik von 1362: „Da man zählte das Jahr 1349, da wurden die Juden zu Straßburg verbrannt in ihrem Kirchhof. Man zieh sie, sie hätten Brunnen und andere Wasser verunreinigt mit Gift. Die sich aber wollten taufen lassen, die ließ man leben.“

Diese christliche Alternative bestimmte über Jahrhunderte hinweg das vom römischen Papst dekretierte Schicksal der Juden, das von der „Volkswut“ der städtischen Handwerker und Kaufleute zusätzlich geprägt wurde. Ihnen waren die kaiserlichen Beschränkungen des jüdischen Alltagslebens noch zu lasch. Vor und nach den „Kreuzzüge“ genannten Eroberungsfeldzügen in den heidnisch-islamischen Osten Europas und Kleinasiens, bei Pest und Hungersnot wurden die Juden Opfer grausamer Massaker, denn das Böse mußte einen Namen und ein Gesicht haben. Die im nationalsozialistischen 'Stürmer‘ zu Propagandazwecken reproduzierte „Judenfratze“ stammt aus dem zutiefst christlichen Mittelalter, als jüdischen Kaufleuten und Handelsreisenden Ritualmorde an christlichen Kindern angedichtet wurden - mit dem Segen der katholischen Kirche. Als ein Bürgeraufstand in Frankfurt 1614, angeführt vom angesehenen Kaufmann Vinzenz Fettmilch, die Erstürmung und Plünderung der Judengasse erfolgreich abgeschlossen hatte, waren die Juden in Todeserwartung schon auf ihren Friedhof geflohen. Zu ihrer eigenen Überraschung ließ man sie am Leben.

Im zweiten Teil der historischen Ausstellung kämpfen Licht und Dunkel sichtbar gegeneinander, reflektiert die Helligkeit und Schärfe des Gestaltungsmaterials die Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Emanzipation einerseits und dem reaktionären Bündnis aus gesellschaftlich -politischer Restuaration und tradiertem Antisemitismus andererseits. Daß ausgerechnet mit dem Imperator Napoleon der Widerschein von Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen - also auch der Juden - in das Deutschland der Fürsten, Stände und Zünfte eindringt, veranschaulicht die Geschichtsdarstellung von 1800 bis 1950 ebenso wie den Kampf der Bürgerlichen Revolution 1848 für die Menschen- und Bürgerrechte und ihre Niederlage gegenüber König und Landesfürsten. Trotz Zuerkennung aller bürgerlichen und politischen Rechte seit 1864 liegt ein stets bedrohlicher Schatten über den Juden. Noch und schon im Jahre 1905 wirbt der Besitzer des Frankfurter Hotels „Kölner Hof“ mit einer Ansichtskarte, auf der ein als „Jude“ denotiertes Menschenwesen im hohen Bogen aus dem feinen Etablissement fliegt: „Das einzige judenfreie Hotel in Frankfurt“, verkünden altdeutsche Druckbuchstaben darüber.

18 Jahre später, 1923, wird das „Institut für Sozialforschung“ gegründet, dessen Direktor Carl Grünberg heißt. Ihm folgt 1930 Max Horkheimer; der eine wie der andere Jude. Mitarbeiter des Instituts sind Adorno, Pollock, Löwenthal, Fromm, Marcuse, Benjamin; auch sie Juden.

1929 schreibt Walter Benjamin, der erst im Pariser Exil nach 1933 zum Institut der „Kritischen Theorie“ stieß, über Siegfried Kracauers großen Essay Die Angestellten: „Eine konstruktive theoretische Schulung, die sich weder an den Snob noch an den Arbeiter wendet, dafür Wesentliches, Nachweisbares zu finden imstande ist, nämlich die Politisierung der eigenen Klasse... im Morgengrauen des Revolutionstages.“

Ein paar Meter weiter, nachdem eine absichtsvoll eingebaute Stufe mit der Inschrift „Verfolgung und Selbstbehauptung“ überstiegen ist (manche Besucher fragen, ob sie das dürfen)

-Dunkel, Schwarz, gerade genug Licht zum Lesen: Entrechtung, Arisierung, Deportation, Vernichtung. Eine metallene Wandtafel, ein gutes Dutzend Schritte lang, enthält die eingravierten Namen von zehntausend Juden. Ein kleines Schild daneben teilt mit: Deportierte Frankfurter Juden 1941-1944. Die meisten starben in Ghettos und Konzentrationslagern.

Die aktuelle Wechselausstellung im Erdgeschoß - inmitten der erhaltenen klassizistischen Innendekoration - zeigt: „Was übrig blieb“. Von den jüdischen Altertümern jenes Museums etwa, das die Jüdische Gemeinde Frankfurts 1922 errichtet hatte und in der Pogromnacht des 9.November 1938 geplündert und zerstört wurde.

Auf der gesamten zweiten Etage des alten Rothschild-Palais‘ erstreckt sich Teil drei der Dauerausstellung. „Jüdisches Leben“. In szenischen Darstellungen, „Kabinetten“, Gegenständen und Schriften spiegelt sich das stark religiös bestimmte Alltagsleben, seine Pflichten und seine Feste, für den nichtjüdischen Betrachter eine fremde Welt, die sich nicht dem ersten Blick erschließt, auch wenn er den Bildern der nächstgelegenen Videoinstallation folgt.

Das Jüdische Museum setzt - gerade in seiner thematischen Beschränkung auf die wichtigsten Aspekte der jüdischen Geschichte in Deutschland (und Frankfurt) - auf die Wirkungen, die durch die Distanz zum Fremden, noch nicht Gewußten und Gesehenen erzeugt werden. Dabei können einzelne Objekte als materielle Spuren der Geschichte geanuso spannend sein wie die Schilderung von politischen und sozialen Zusammenhängen auf Schrifttafeln. Überall präsent aber ist die Geschichte des christlichen Abendlandes, von den Habsburgern bis heute. Dieses Museum ist kein „Kulturbunker“, es bietet die Möglichkeit, mehr zu verstehen.

Reinhard Mohr

Jüdisches Museum, Frankfurt am Main, Untermainkai 14-15. Öffnungszeiten Di-So 10-17 Uhr (Mi bis 20 Uhr), Eintritt frei. Dazu: Bibliothek, Bildarchiv, Textarchiv, Dokumentation, Videothek.