Riß in der Bastille

Frankreich lockert sein Ausländerrecht  ■ K O M M E N T A R E

Das Jubeljahr begann mit heißer Luft. 98 Montgolfieren - für jedes Departement eine - hoben sich in den Himmel des neuen Jahres, um die alte Botschaft von Frankreichs Größe zu verkünden. In seinem Palast in den elysischen Feldern träumt Mitterrand davon, sein Land, wie einst 1789, zur moralischen Weltmacht werden zu lassen, nachdem es seine wirtschaftliche und imperiale Größe eingebüßt hat. Eine neue Menschenrechtserklärung wird Frankreich der Welt in diesem Jahr schenken, eine „Ethik des dritten Jahrtausends“, wie es in gewohnter „Bicentenaire„-Bescheidenheit heißt. Heiße Luft?

Mitterrand möchte die alte Mutter Revolution, deren Insignien Freiheit, Gleichheit und so weiter von jedem Rathausportal des Landes gähnen, ein Mal noch, ein letztes Mal aus der Banalität erwecken. Das vom Modernisierungssturm zerzauste Frankreich soll im Jubiläumsjahr um die „republikanischen Werte“ geeint werden. Den Beurs, den jungen Franzosen nordafrikanischer Herkunft, fällt in dem Projekt des monarchischsten aller Republikaner die Rolle des „guten Negers“ zu: An ihnen - sofern sie willens sind, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen - soll demonstriert werden, wie integrationsfähig die französische Republik 200 Jahre danach und trotz Le Pen noch ist. Und so erließ Mitterrand eine Lockerung der Aufenthalts- und Zuzugsbedingungen für Ausländer, ohne jedoch, wie es die Beurs fordern, das gesamte Gesetz von Chiracs Innenminister Pasqua schlicht abzuschaffen.

Ein zaghaft-erster Schritt auf der Suche nach der verlorenen Revolution? Gewiß - denn war es nicht die Jakobiner-Verfassung von 1793, die die „Nation“ als Gemeinschaft derjenigen bestimmte, die an einem Ort gemeinsam leben und gemeinsam streiten - unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Geburt? Dieses Prinzip, das keine Franzosen mehr kennen wollte, sondern nur noch Bürger, Citoyens, wurde von der restriktiven, nationalistischen Reform des Ausländerrechts der Chirac-Regierung ausgehöhlt. Citoyens maghrebinischer Herkunft wurden des Landes verwiesen. Diese neue Bastille des Rassismus hat gestern einen kleinen Riß bekommen. Nach dem ersten Schritt muß jetzt allen Citoyens ihr ureigenes Recht zuerkannt werden: das Recht, seine Vertreter zu wählen, das Wahlrecht für Ausländer, wie es 1793 schon einmal bestanden hat. Das wäre eine Art, die alte Revolution zu kommemorieren, ohne sie in einer Selbstdarstellung von Staats wegen zu verraten. Denn was nützen die Menschenrechte, wenn es bereits bei der Gewährung der elementaren Bürgerrechte hapert?

Alexander Smoltczyk