„Die Naturwissenschaften politisiert“

■ Heute wird der Erkenntnistheoretiker, Philosoph und Bremer Gastprofessor Alfred Sohn-Rethel 90 HochschullehrerInnen erinnern sich an „Sternstunden“ mit Debatten um geistige und körperliche Arbeit

Er ließ mich nicht aus dem blauen Blick, und er wollte, daß ich es verstand, was im Herbst als seine achte und letzte „Attacke, ich nenne es Expose“, bei Suhrkamp erscheinen wird: „Das wird von der Geschichtswissenschaft und Philosophie lange nicht verdaut werden - aber das steht. Und das wird ohne Schleier dargestellt.“ Achtundsechzig Jahre lang ist er der Erkenntnis auf der Spur geblieben, und heute wird er neunzig: Alfred Sohn-Rethel.

Wie ein Zündfunke war in den Anfangsjahren der Bremer Universität sein Band „Geistige und körperliche Arbeit“ übergesprungen und hatte beileibe nicht nur Sozialwissenschaftler oder Philosophinnen, sondern die sonst kühlen Rechner, Informatiker, Ingenieurinnen und Elektrotechniker Philosophie und Erkenntnistheorie lesen und interdisziplinär debattieren lassen. Daß und wie Mathematik und Naturwissenschaften überhaupt nicht neutrale und „richtige“ Grundlagen anboten, sondern selbst in ihren Fragestellungen und Denkweisen durch Kapitalismus und Warentausch bestimmt sein sollten, forderte damals Lehrende und Studierende zu heftigen Debatten heraus. „Wir haben auf Fahrten im Bus gehockt und uns die Köpfe heiß geredet, da war Alfred gar nicht bei“, erinnert sich der Informatik -Professor Frieder Nake, „samstags vormittags kam er mal zu den Naturwissenschaftlern und trug vor; und das hatte heftigen Einfluß auf Studierende und Lehrende. Wir waren alle angesteckt und haben gesagt: Wir machen jetzt andere Wissenschaft. Die theoretische Begründung lieferte Sohn -Rethel, das Instrumentarium war das Projektstudium.“ Und an die „Sternstunde, als uns das Buch in die Hände fiel“, erinnnert sich Sozialwissenschaftler Helmut Reichel noch heute, der allerdings später andere Wege der Theoriebildung einschlug.

So einfach ging das mit der anderen Bremer Wissenschaft, auch mit dem damals hoffnungsvollen Blick ins kulturrevolutionierende China, dann doch nicht. Aber daß „mit diesem verführerischen Ansatz diese Neutralitäts -Illusion gekippt wurde“, das gilt auch noch für Mathematik -Professor Ludwig Arnold: „Ich verehre ihn nach wie vor, den geistreichen Denker, aber ich bin nicht mehr so sein Jünger. Das war empirisch nicht zu fassen.“

Dem 90jährigen Alfred Sohn-Rethel kam es gestern überhaupt nicht darauf an, in Anerkennung zu baden: „Ich bilde mir nichts ein, dazu hat es zu lange gedauert.“ Ihm geht es um Gedanken, und zwar um die eigenen: „Ich verlasse mich nur auf mein Denken. Was ich schreibe, habe ich alles selbst gedacht, das macht mich auch so attackierbar.“ Einen Verwandten spricht er zwischendurch auf einen „Einwand“ an, der ihm keine Ruhe läßt, und die beiden verwickeln sich kurz in eine Debatte um die Rolle der Computertechniker beim Finanz- und Industriekapital.

Das mit der fehlenden Empirie, dem Nachweis an der Wirklichkeit, ficht Sohn-Rethel nicht an: „Man kann nicht den Zeigestock drauf halten. Was passiert, findet hinter dem Rücken der Akteure, die sich vergesellschaften, statt. Die eigentümliche Verborgenheit der Wahrheit liegt gerade an dem Prinzip des Privateigentums, des Warentauschs, also gerade der Negation von Gesellschaft.“

In Bremen erfuhr der Intellektuelle Anfang der 70er, als er schon über das Pensionsalter hinaus war, akademische Anerkennung als Gastprofessor. „Er hat zur Politisierung der Naturwissenschaftler entscheidend beigetragen“, erinnerte sich die Gesellschaftswissenschaftlerin Prof. Heide Gerstenberger, „der Generationen-Unterschied hatte überhaupt keine Bedeutung!“ 68 Jahre

passionierter Theoriearbeiter: „Da muß man ganz diszipliniert sein. Nachts hab‘ ich Gedanken, wenn ich sozusagen gar nicht dabei bin. Morgens muß ich aus dem Bett springen und sie aufschreiben, heute zum Beispiel war das ganz stark.“

Gibt es Wünsche zum Geburts

tag? „Ja, Bücher vor allem. Und sonst? Da mußt Du Bettina fragen, die mein Leben kennt - ich bin ja so glücklich dran!“ Mir fiel ein, was mir die 49jährige Verlegerin und Ehefrau - Bettina Wassmann vor ein paar Wochen im Gespräch erzählte: „Die meisten Menschen denken, daß eine

so viel jüngere Frau für Alfred Mut und Hoffnung bedeuten müßte. Es ist genau umgekehrt! Für mich ist es eine große Hoffnung, daß ein Mensch in so hohem Alter so klug und so produktiv sein kann!“ Susanne Paa

„Epistemologie der abendländischen Geschichte“, Suhrkamp.