Geheimlogenchef Gelli macht schon wieder Politik

Trotz seiner Verurteilung im Zusammenhang mit rechtsradikalen Attentaten ist der Italiener nach Auslieferung aus der Schweiz auf freiem Fuß / Polizei schützt den Schwerverbrecher auf Schritt und Tritt / Politiker der Sozialisten, Christdemokraten und Grünen ersuchen ihn um Audienzen, Journalisten sorgen für öffentliches Interesse  ■  Aus Florenz Werner Raith

Gemeinhin gilt das florentiner Hotel „Baglioni“ nahe dem Bahnhof und dem Kongreßzentrum und neben der ehrwürdigen Kirche Santa Maria Novella als Geheimtip all derer, die bei nobler Unterbringung diskrete Geschäfte erledigen, mal einen Luxustrip absolvieren oder auch mit einem kleinen Nebenverhältnis ein Weekend verbringen wollen. Neuerdings steht freilich des öfteren ein unübersehbarer Polizeiwagen davor, und das stört manchen der Besucher, so daß die Hotelleitung hin- und hergerissen ist, ob sie die Präsenz als Ehre oder als Geschäftsschädigung ansehen soll. Immerhin verwehren die Uniformierten nicht nur uns Journalisten unangemeldeten Zugang, sondern kontrollieren ab und zu auch irgendwelche anderen Besucher, denen das gar nicht angenehm ist.

Der Streifenwagen ist für einen der schlimmsten Schwerverbrecher der italienischen Nachkriegsgeschichte abgeordnet - den „Maestro venerabile“, Licio Gelli, Matratzenfabrikant aus dem nahen Arezzo und Chef der 1981 aufgeflogenen Geheimloge „Propaganda 2“ (P2). Gelli, im Zusammenhang mit rechtsterroristischen Attentaten und umstürzlerischen Machenschaften der einst von der P2 durchsetzten Geheimdienste zu nahezu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt (unter anderem wegen des Anschlags auf den Bahnhof Bologna mit 85 Toten), darf sich frei bewegen - und wird, damit ihm nichts passiert, von Staats wegen auf Schritt und Tritt geschützt. Denn ein Mord an Gelli würde Spekulationen Tür und Tor öffnen, man habe einen gefährlichen Zeugen für die Machenschaften vieler Politiker und Notabeln beseitigt. Schließlich haben viele davon zur P2 gehört.

Daß Gelli frei ist, verdankt er eifrigen Medizinern, die den Behörden von jedem Gefängnisaufenthalt ihres Klienten dringend abgeraten haben - und der schweizerischen Justiz. Die hatte, als Gelli sich nach seiner Flucht aus einem Gefängnis ebenjener Schweiz (1983) voriges Jahr freiwillig wieder stellte, die Auslieferung nach Italien nur erlaubt, wenn der geehrte Meister lediglich wegen des von ihm wesentlich verursachten betrügerischen Bankrotts der Banco Ambrosiano (1981) vor Gericht kommt, nicht aber wegen terroristischer Taten. Dafür nämlich gibt es in der feinen Schweiz kein Gesetz, und so liefert sie auch keinen deshalb aus. Die verhängten vielen Jahre Zuchthaus wegen des Terrorismus und der Verschwörung zum Sturz der Demokratie braucht der Meister also nicht abzusitzen, und wegen des Bankrotts hat er allenthalben ein paar Jahre zu erwarten die die Mediziner der Justiz schon noch ausreden werden.

Doch so schlecht es ums Herz des Meisters steht - ein bißchen Arbeit und Bewegung tut zweifellos gut, und so hat die Eskorte nach Aussagen eines der Polizisten „in den letzten Wochen gut und gern drei- bis viertausend Kilometer hinterherzufahren gehabt“: Mal weilt der P2-Chef in Rom, dann geht es zurück nach Arezzo, wo die alte Villa Wanda, einst sein Hauptquartier, als Hintergrund für illustrierte Magazinberichte dient, dann hat der Logenobere eine Kur in Montecatini nötig, danach ist wiederum Florenz dran. Und selbstlos empfängt der Arme unter Zurückstellung seiner Gesundheit alle, alle, die ihn sehen wollen - und das sind nicht wenige.

Journalisten stehen Schlange

Der sozialistische Bürgermeister von Montecatini macht seine Aufwartung ebenso wie sein Vorgänger (der gerade eine Anklage wegen Steuerhinterziehung von zehn Millionen Mark auszusitzen hat), der bekannteste Notar von Arezzo und auch so mancher Parlamentarier - der Christdemokrat Egidio Carenini und, Schreck laß nach, der auf der vereinigten Liste von Grünen und Sozis gewählte Senator Piergiorgio Sirtori. Journalisten sichten einander, so jedenfalls der Eindruck bei den schon fast täglichen Hofberichten, geradezu in Rudeln. Das staatliche französische Fernsehen arbeitet an einer zwölfteiligen Sendereihe über Gelli, auch Italiens RAI hofiert ihn. Der taz-Korrespondent kommt kaum nach, all die Anfragen der Kollegen aus deutschen Landen nach der Telefonnummer Gellis zu beantworten.

Er ist also wieder da, „als ob die Zeit stehengeblieben wäre“, resümiert das Nachrichtenmagazin 'L'Espresso‘, und die Konkurrenzzeitschrift 'Panorama‘ befindet: „Wie eh und je“. Gerne bestätigt der Venerabile Gerüchte, daß er „von drei Parteien Angebote zur Kandidatur für die Europawahlen“ habe, doch „ich ziehe möglicherweise die Gründung einer eigenen Gruppe vor“, das kranke Herz wird schon mitmachen. Auch daß seine Aufenthalte in Thermalbädern wie Montecatini nur zum Teil kuralen Zielen dienen, gibt er bereitwillig zu

-dort ist für etwa zehn Millionen der Kursaal zu verkaufen und in den soll bald eines der größten Spielkasinos Europas eingebaut werden; Gelli findet das nicht unattraktiv.

Daß der Rechtsextremist und ehemalige SS-Kombattent, der in den siebziger Jahren mit seiner Loge einen „Plan zur demokratischen Erneuerung“ mit „eindeutigem Staatsstreichcharakter“ (so die Präsidentin der P2 -Kommission, Tina Anselmi) verfolgt hat, sich nun wieder in alter Munterkeit in Italien tummeln und aufs neue seine Fäden ziehen kann, ist nicht verwunderlich. Als ob es nicht die famosen P2-Mitgliederlisten mit an die 1.000 Namen aus Politik (zwei Minister, drei Staatssekretäre), Hochfinanz, Verlagswesen ('Corriere della sera‘), Geheimdienste (alle Chefs der siebziger Jahre), Militär (ein Dutzend Generäle) und Justiz gegeben hätte, sitzen die Logenbrüder unangefochten in ihren alten Ämtern - oder wurden in neue, noch wichtigere befördert.

Im staatlichen Rundfunk RAI hat Präsident Enrico Manca (der jeden vor Gericht zitiert, der ihm sein eigenes Erscheinen auf der Liste als Mitgliedsbeweis auslegt) jedenfalls nichts dagegen, wenn eindeutig belegte P2-Kämpfer in seinem Funk arbeiten wie etwa Giampaolo Cresci, die rechte Hand des Programmdirektors. In der Hochfinanz und der Hochindustrie (zum Beispiel der Enichem, die eben durch Fusion zu einem der größten Industriekonzerne Europas wurde), im Generalstab und in den privaten Massenmedien (bekanntestes Beispiel: Der europaweit herumwieselnde Chef von „Italia 1“, „Retequattro“ und „Canale 5“, Silvio Berlusconi) sind sie zugegen - und natürlich in der Politik, wie eh und je. Der Sozialist Fabrizio Cicchitto und der Sozialdemokrat Longo ziehen längst wieder Fäden in ihren Parteien - wie es scheint, haben ihre Führungsspitzen auch nichts dagegen; und „so manche Forderung aus meinem 'Plan zur demokratischen Erneuerung'“, sagt Gelli selbst, „ist inzwischen sowieso realisiert oder steht vor der Realisierung“, etwa die von ihm empfohlene, von Sozialistenchef Bettino Craxi energisch verfolgte Umwandlung Italiens in eine Präsidialrepublik nach dem Muster de Gaulles.

Warnungen vor der Wiederauferstehung Gellis und seiner P2 verhallen weitgehend ungehört. Spektakulärster Fall: Als der Staatssekretär für die Geheimdienste, Angelo Sanza, vorige Woche öffentlich das „Bestehen alter Seilschaften aus P2 -Zeiten in den Abwehrdiensten“ feststellte, ließen ihn seine DC-Freunde sofort fallen, selbst sein ihm sonst gewogener Chef Ciriaco De Mita distanzierte sich von ihm. Sanza trat zurück.

Wahrscheinlich hatte dazu vor allem ein „zufälliges“ Statement des neofaschistischen Abgeordneten Giorgio Pisano beigetragen: Gelli habe, so vertraute er der Presse nach einem Gespräch mit dem Maestro an, von dem im Gefängnis an vergiftetem Espresso verstorbenen ehemaligen Papst-Finanzier und Mafia-Bankier Michele Sindona „ein umfangreiches Dossier erhalten“ - und mit dem, so Pisano, „könne er sich jede Tür in jeder Partei öffnen“.

Das sieht das Volk wohl auch so. Am letzten Sonntag jedenfalls prangte beim Fußballspiel im Stadion von Arezzo nahe Gellis Domizil ein Riesenplakat: „Gelli for President“.