„Mit den Gruftis hab‘ ich nichts zu tun!“

■ Fade Podiumsdiskussion zum Auftakt des Internationalen StudentInnenkongresses / Jens Scheer wünscht sich Sozialistische Konfenrenz zurück / Wolfgang Nitsch setzt vergeblich zum Diskurs über Uni und Gesellschaft an / Über 1.000 TeilnehmerInnen

Um zehn Uhr morgens steht Christian S., stadtbekannter Holzkamera-Mann, noch in Pyjamas im großen Hörsaal der BeFreiten Universität und reibt sich die müden Augen. Zwei Stunden später ist der „Journalist“, der gestern erstmalig seine fahrbare, große Holzkamera der studentischen Öffentlichkeit präsentierte, schon zum Präsidenten der Hochschule gewählt worden. Aber das ist eine andere Geschichte.

Von der Grußadresse des italienischen Studenten, der den ersten Kongreßtag unter der Motto „Universität und Gesellschaft“ gegen elf Uhr vormittags eröffnet, versteht man nur Wortfetzen: „Studiosi-italiani-Roma Bologna Filence -dramatica-kultura-europei“. Der Rap-Gesang des Studiosi wird von den über 1.000 Anwesenden mit donnerndem Beifall honoriert; und das Berliner Echo auf die kurze Rede der Kommilitonin aus Madrid lautet natürlich: „Viva! Viva! - La Revolucion!“ Innerhalb von fünfzehn Minuten werden außerdem die solidarischen Grüße der schweizerischen, bayerischen, österreichischen und portugiesischen Studenten überbracht. Und ein griechischer Student weiß sogar, „daß es in ganz Europa Aufstände von Arbeitern und Studenten gibt.“ Daraus wird messerscharf gefolgert, daß man nun den Angriff aller Arbeiter und Studenten in Westeuropa gegen Kapitalismus und Oligarchie organisieren müsse. Das also sprach der Grieche, und dieser Trompeter im schwarzen Talar, der in Wirklichkeit gar nicht Theologie studiert, blies kräftig ins Horn.

Nichts Neues von der ÖTV

Nach dem stimmungsvollen Vorprogramm a la Hoch Nieder Rauf Runter folgt nun die Diskussion am Podium. Karl-Heinz Roth, Hamburger Historiker, läßt sich entschuldigen, „weil an der Hafenstraße wieder was los ist“, und der Berliner Studentenpfarrer Ton Veerkamp, der eigentlich für die ausländischen StudentInnen sprechen sollte, ist auch nicht da, weil irgend jemand verpennt hat, ihn brieflich einzuladen. Der ÖTV-Kollege Thomas Kunz von der Betriebsgruppe Klinikum Steglitz hat „vor anderthalb Stunden erst erfahren, daß ich hier reden soll, deswegen kann ich jetzt gar nicht soviel sagen“ - aber immerhin: Wolfgang Nitsch, Ex-SDSler und jetziger Soziologie Professor an der Oldenburger Carl-von-Ossietzky-Universität ist voll da; zudem der bekannte Bremer Physiker Jens Scheer und die Vorsitzende des Gesamtpersonalrates der FU, Petra Botschafter. Ihre Botschaft, die sie als ersten Diskussionsbeitrag überbringt, ist denkbar dünn. Sie sei leider an Beschlüsse gebunden, die 18.000 Uni-Beschäftigten dürften laut Betriebsverfassungsgesetz nicht streiken, und zu den inhaltlichen Forderungen der Studenten könne sie gar nicht soviel sagen, weil es den Betriebsrat erst seit 1972 (!!) gibt. Peinliches Schweigen, dann verhaltenes Lachen.

Hut ab vor den Enkeln

Für mich ist es eine Ehre, hier eingeladen zu sein!“ beginnt der 68ger Wolfgang Nitsch seinen Beitrag. Die autonomen Seminare, die die Studenten bisher organisierten, hätten viele anspruchsvolle Vorlesungen in den Schatten gestellt. Der Opa zieht den Hut vor seinen Enkeln, nicht rhetorisch, sondern aufrichtig gemeint. Der Aufstand im Jahre '88 sei ein historisches Novum, weil er zum ersten Mal nach einer universitären Dauerkrise erfolge. Die Motive der Studentenschaft, jetzt auf den Putz zu hauen, sieht er unter anderem in der Ausbildung von Naturwissenschaftern zu Menschen, die anstelle von Produktivkräften Destruktivkräfte beherrschen sollen. Und die Geisteswissenschaften seien auf einen gesellschaftlichen Entsorgungs- und Verdummungsapperat orientiert. Dazu käme die Angst vieler StudentInnen vor der Zweidrittelgesellschaft, die die Menschenwürde von Sozialhilfeempfängern und Arbeitslosen nur noch zufällig sichere. Nitsch will den Diskurs über Uni und Gesellschaft; sein Nachredner, Jens Scheer, dagegen ein politisches Programm. Wissenschaft sei ideologische Herrschaftssicherung; viele Linke hätten Berufsverbot bekommen (Auch Scheer war lange davon betroffen, red) und nun, zackzack, müsse man die „Rückgabe der Wissenschaft an das Volk“ organisieren. Wann - heilige Einfalt - „das Volk„jemals im Besitz der „Wissenschaft“ gewesen ist, darüber schweigt sich Scheer aus. Er wird doch wohl nicht '68 meinen?

Offenbar doch: Es sei zu überlegen, ob man die Tradition der „Sozialistischen Konferenz“ nicht wieder zum Leben erwecken solle. Eine originelle Idee, ganz was Neues. „Wir wollen vorwärts, und nicht rückwärts!“ ruft ihm eine Studentin entgegen, jaja, meint Scheer, aus Fehlern könne man doch lernen. „Mit den Grufties, da hab ich überhaupt nichts mehr zu tun!“ kommentiert ein etwa 24jähriger Student die Faselei, dreht sich stehenden Fußes um und geht Kaffee trinken. Er ist nicht der einzige.

Interdisziplinarität

aber welche?

Ob die Forderung der StudentInnen nach Interdisziplinarität eigentlich ausreichend sei oder möglicher Weise sogar gefährlich, will ein Student wissen. Denn fachübergreifende Forschung könne schließlich auch als industrieller Modernisierungsschub genutzt werden. Nitsch bestätigt das und betont, „daß man“ in der Industrie interdisziplinärer sei als in der Uni. Es gehe um die Inhalte von Lehre und Forschung - nicht um die Form. Obwohl die Diskussion zum Schluß an Niveau gewann, beschlich die meisten nach Ende der Diskussion das altbekannte, fade Gefühl, das man nach langwierigen Vorlesungen hat. Warum sich die StudentInnen so eine Märchenstunde - nach vier Wochen Streik und Diskussionen - gefallen lassen, bleibt ihr Geheimnis.

Claus Christian Malzahn