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: Plädoyer für eine kulinarische Vernunft (Fleischlos leben?, 5.1.89, ARD, 20 Uhr 05)

S T A N D B I L D (Fleischlos leben?, 5.1., ARD, 20 Uhr 15, ZDF, 21 Uhr 05) Rohkostvisagen, Zwiebacknasen, Himbeersaftstudenten, Kohlrabiapostel und Müslis, aufgepaßt und hergehört! Der Zeitgeist bändelt mit euch an, die „genießende Vernunft“ reicht euch die Hände! Sind die Avancen nur ein Flirt, eine überraschende Verliebtheit, in der die lukullischen und die medialen Protagonisten allein sich selbst und ihre Bedürfnisse realisieren und genießen wollen?

Dieter Stengels Bericht läßt dieses Verständnis nicht zu. Der dargestellte Problemhorizont setzt an bei den individuellen Gesundheitsbedürfnissen, skizziert den Gewinn für Kopf und Bauch durch fleischlose oder fleischarme Kost in medizinischer Perspektive, kommt zum Mythos „Fleisch“ und seiner Entwicklung in der Bundesrepublik und läßt sich im Konzept des „verantwortlich fleischarmen“ Essens zusammenfassen: einer kulinarischen Moral eingedenk der Massentierhaltung, der Industrialisierung der Landwirtschaft usw. Stengel zeigt in seinem Bericht, dessen handwerklich -ästhetische Vermittlung in Ton und Bild einen hohen Grad an Qualität erreicht, daß vegetarische Vollwertkost vernünftig und möglich ist für die Hausfrau, das ambitionierte Restaurant und die Großküche gleichermaßen. Er zeigt es nicht nur, er spannt uns ein in diese Absichten: unprätentiös, wortkarg fast, aber eindringlich; wie dieser Bericht, so sollen der neue Koch und die Küche sein; setzen wir uns an ihre Tafel!

Hochkarätige „Agitation“ reicht nicht, das weiß der Autor, sie muß als mögliche Praxis auch vorgeführt werden: der Vollwertstammtisch für Köche in Stuttgart bis hi zum gastrosophischen Ambiente des Restaurantbesitzers, sie alle geben uns Beispiele gelungener Praxis „genießender Vernunft“, für die „die Zeit reif ist“.

Was bleibt, nachdem uns also so viel Gutes widerfahren, für die „Kritik“? Die Geschichte des Fleischgenusses ist die Historie des Tötens der Tiere und der „tierähnlichen“ Menschen, der Knechte, der Juden und Hexen, der Indianer und der „lebensunwerten“ Kreaturen, die Geschichte der anfangs durch Jäger männerbündlerisch organisierten Jagd, der dann priesterlich geschmiedeten Hierarchie, der insgesamt patriarchalisch gedachten „Gesellschaftsverträge“. Das ist, das weiß der Autor wohl auch, zu viel der Subversion, das kann und darf er Otto Normalverbraucher nicht zumuten.

Rainer Markwitz-Bindernagel