Europas vergessenes Elend

Lissabon: Umgeben von Slums aus Wellblech und Pappe / Bleibe für Flüchtlinge aus Angola und Emigranten von den Kapverden / Kommunistische Kommunalverwaltung betreibt Stadtplanung mit Bulldozern  ■  Aus Lissabon Antje Vogel

Vielleicht glänzen im Sommer die Wellblechdächer in der Sonne, vielleicht bringen dann die bunten Fliesen und plattgeklopften Konservendosen der Wände ein wenig Farbe ins Bild. Doch in dieser regnerischen Kälte ducken sich die Hütten in den Schlamm, gleichen sich ihm an, die Welt ist braun und grau. Die Mutter von Ignacio hat sich einen schmuddeligen Wollschal um den Kopf gewickelt, um sich vor der Feuchtigkeit zu schützen. Der wochenlange Regen hat die Wände ihrer Hütte aus Preßpappe aufquellen lassen, die Ecken haben sich aufgebogen und lassen den Wind herein. Der Erdboden hinter dem Eingang verwandelt sich langsam in Schlamm. Ihr Bett hat sie aus der angestammten Ecke in die Mitte der Hütte gepackt, wo es noch trocken ist. Vor ein paar Tagen hat sie sich den Arm verstaucht und trägt ihn nun in Gips. „Wovon soll ich leben, solange ich nicht putzen gehen kann?“ klagt sie. Ihr Arbeitgeber hat wie üblich auf einen Arbeitsvertrag verzichtet. Damit umgeht er den Mindestlohn und braucht ihr jetzt nichts zu bezahlen.

Vor zwei Jahren ist die Mutter von Ignacio aus Angola nach Portugal gekommen, um eine Krankheit behandeln zu lassen, wie sie sagt. Nun fehlt ihr das Geld für die Rückkehr. Ihr Sohn hat sich woanders eine Hütte gebaut, sie ist alleine geblieben. Von einer Romafamilie hat sie die Hütte übernommen, möbliert. Ein Bett, ein Tisch, ein wackliger Holzstuhl und eine Petroleumlampe. Strom und fließend Wasser gibt es nicht. Die Nachbarn der Mutter von Ignacio besitzen nicht mehr als sie. Nicht die füllige Maria Augusta, die zufrieden mit ihrem Schicksal ist, weil sie vor kurzem ihre zehn Kinder hier in Sicherheit vor dem Bürgerkrieg in Angola gebracht hat. Drei ihrer Töchter waschen hinter dem Haus Wäsche. Das Wasser holen sie vom Brunnen ein paar Hütten weiter weg. Ihre Hände und ihre nackten Füße sind rotgefroren. Maria Augustas Mann und die älteren Söhne arbeiten gelegentlich schwarz auf dem Bau. Damit bringen sie die Familie durch.

Auch bei der alten abgehärmten Rosalina in dem zerfetzten schwarzen Kleid ist nichts zu holen. Als Angola unabhängig wurde, mußte sie als Portugiesin das Land verlassen. Reich war sie auch dort nicht. Doch immerhin besaß sie ein Steinhaus. Von dort ist sie in dieses Elendsviertel am Rande Lissabons gezogen, und hier wird sie sterben.

Schnellstraße in eine andere Welt

Dort, wo die Stadt ausläuft, wo die Villen und Avenuen enden, noch hinter den 20stöckigen Schlafstädten, liegt Prior Velho. Niederlassungen von BASF, AEG, BMW, MAN und so weiter teilen sich das Brachgelände mit den Hütten von Ignacios Mutter und ihren Nachbarn. Neben den Barracken aus Wellblech, Pappe, Brettern und Dosen, neben Wegen aus Schlamm und Leinen voller Wäsche führt wie eine Spur aus einer anderen Welt die Schnellstraße zum Flughafen vorbei. Die Einwohner von Prior Velho überqueren sie, um in den Fabriken Eingeweide zu säubern, die in derart präsentablem Zustand in die BRD oder nach Holland zurückgebracht und dort zu Würsten gefüllt werden. Sie gehen in den Fabriken und Schlafstädten putzen und arbeiten am Bau neuer Niederlassungen mit. Ein Arbeitsvertrag, und sei er auch zeitlich befristet, gilt als Glücksfall.

Viele fahren morgens in dem brechend vollen Bus in die Stadt - eine Stunde lang -, um dort auf der Straße Regenschirme und Strumpfhosen zu verkaufen, zu betteln, zu stehlen, auf den Strich zu gehen. Früher gab es gar keine Verkehrsverbindung hierher. Als 1975 die Revolution ausbrach, nutzten die Einwohner von Prior Velho die Gelegenheit und kaperten kurzerhand einen öffentlichen Bus. Seither besteht die Linie. Theoretisch fährt er alle zehn Minuten, faktisch etwa alle halbe Stunde. Ansonsten ist wenig zu merken von den Zeiten des Aufbruchs.

Vor wenigen Jahren wurde die erste Sanitätsstation im Viertel eingerichtet, dort werden die Patienten umsonst behandelt. Analysen und Medikamente müssen sie jedoch zumindest teilweise bezahlen. 8.000 Escudos Rente bekommt der Roma Abel monatlich, etwa 100 Mark. Seine Frau ist krank. Für die letzten Analysen soll er nun 4.000 Escudos bezahlen. „Wo soll ich die hernehmen?“ fragt er entrüstet. „Wenn ich versuche, auf der Straße Sachen zu verkaufen, kommt die Polizei und verscheucht mich. Und dann wundern sie sich, wenn einer klauen geht.“ Krank sind viele. Das Brachgelände, wo die Kinder spielen und Hunde und Katzen streunen, dient den meisten als Toilette. Durchfallerkrankungen sind häufig. Die Kälte und Nässe der Hütten bringt Rheuma mit sich. Mangelerscheinungen tun ihr übriges. Die blassen kleinen Kinder haben bereits die talgige gelbe Hautfarbe der Erwachsenen, faulige Zähne haben fast alle.

Mit Bulldozzern Häuser plattgewalzt

Auch die kommunistische Verwaltung des Stadtteils scheint nicht recht weiterzuwissen. Um zu verhindern, daß die illegalen Bauten Bestand bekommen, hat sie im Frühjahr eine Reihe Steinhäuser abreißen lassen, die ihre Bewohner sich Stück für Stück gebaut hatten.

Es sind vor allem Emigranten aus den Kapverden, die sich das Geld für den Hausbau am Essen absparen. Maria de Fatima, eine junge Frau mit drei Kindern, die von ihrem Mann getrennt lebt, fand eines Abends im Mai, als sie vom Putzen nach Hause kam, von ihrem Heim nur noch Trümmer vor. Mit der Begründung, das Haus sei unbewohnt, hatte ein Bulldozer der Stadtverwaltung es plattgewalzt. Aus dem Schutt zog sie eine Kommode und ein paar wacklige Stühle hervor. Die stehen seitdem, Wind und wetter preisgegeben, vor dem Haus ihres Bruders. „Soll die Stadtverwaltung sich doch etwas überlegen, wo wir hinsollen“, knurrt Matilde, eine junge Frau aus den Kapverden, deren Familie gerade ein Steinhaus um die Blechhütte herumbaut. „Wir sind doch keine Tiere.“

Daß sie den öffentlichen Stellen Widerstand entgegensetzen müssen, ist allen klar. Doch bis zum gemeinsamen Handeln ist es weit. Der Portugiesin Bia, die seit Jahrzehnten hier lebt, sich ein Steinhaus gebaut hat und einen Fernseher aus den fünfziger Jahren besitzt, den sie mit einer Autobatterie betreibt, geht es immer noch besser als den Emigranten aus den Kapverden, die an einen Fernseher gar nicht denken können. Und am schlechtesten von allen geht es wohl den Angolanern und den Zigeunern, die von einem Steinhaus nur träumen können. Diese Unterschiede trennen.

Drei Nonnen, zwei Französinnen und eine Portugiesin, vom Orden der „Kleinen Schwestern Jesu“ versuchen, die Hüttenbewohner zum gemeinsamen Handeln zu bewegen. Sie leben - im steinernen Tal von Prior - zu dritt in einer kargen Einzimmerwohnung. Zwei gehen putzen, eine kocht in einer Firmenkantine. In ihrer Freizeit wandern sie durch die Baracken und hören sich die Klagen der Bewohner an. „Komm am Sonntag zur Nachbarschaftsversammlung“, raten sie jedem eindringlich, der von ihnen Hilfe erwartet. „Dort können wir alles gemeinsam besprechen. Ihr müßt selber kämpfen für euer Recht.“ Skeptische Blicke und ein vages Versprechen, am Sonntag zu kommen. Die drei sind Praktikerinnen der Theorie der Befreiung, und treffen hier auf fruchtbaren Boden. Eine Kirchenhierarchie, die sich bremsend einschalten könnte, gibt es nicht. Genausowenig wie einen Priester oder eine Kirche. Der Gottesdienst wird im Gemeindesaal gefeiert. „Wir träumen von einer Hütte extra für den Gottesdienst“, sagen die Schwestern. „Aber darauf werden wir wohl noch lange warten müssen“.

Mehrere tausend Einwohner hat Prior Velho. Nicht viel. Aber es gibt viele Prior Velhos um Lissabon. Ein ganzer Gürtel von solchen Barackensiedlungen zieht sich um die Stadt. Eine schier unendliche Reihe von Bretterverschlägen voller Elend, Krankheit und Hunger. In greifbarer Nähe, nicht Kalkutta und nicht Kairo, sondern Lissabon, die weiße Stadt. Im Sommer brannten hier drei Straßenzüge. Die Welt schrie auf. Die Lissaboner stehen mit Tränen in den Augen vor den Absperrungen und schauen zu, wie Kräne in den hohlen Eingeweiden der alten Gebäude herumfuhrwerken. Die Europäer erinnern sich des gemeinsamen kulturellen Erbes, das hier in dieser Stadt am Rande Europas in Flammen aufging und drängten auf Restaurierung. Zu Recht. Die Barackenbewohner am Rande Lissabons sind niemandes kulturelles Erbe.