Feuer frei für „Zimmermann-Orgel“

■ Die Polizeien der Bundesländer werden mit neuen Granatwerferpistolen aufgerüstet / Von Norman Bethune

Die Einsatzhundertschaften der Länderbereitschaftspolizisten werden bis 1990 mit einer neuen Mehrzweckpistole1 (MZP1), mit der vor allem Gasgranaten (CN und CS) verfeuert werden, ausgerüstet. Dies sehen die Beschlüsse für die Haushaltsjahre 1988 und 1989 vor, die unlängst vom Bundestag verabschiedet wurden. Für insgesamt 2,3 Millionen Mark erhalten die Länderpolizeien 582 Waffen dieser Heckler&Koch -Entwicklung. Ob der Bundesgrenzschutz ebenfalls mit der Waffe ausgerüstet wird, ist bislang nicht bekannt. Mit der Einführung der MZP1 findet die seit Beginn der achtziger Jahre von Sicherheitspolitikern und Polizeigewerkschaften immer wieder erhobene Forderung nach „polizeitypischen“ Abstandswaffen vorerst ein Ende.

„Es sah aus, als käme ein aufgeblasenes Kondom auf uns zugeflogen.“ Der Teilnehmer an der großen Brokdorf -Demonstration im Juni 1986 erinnert sich an die Szene genau, „weil wir damals völlig überrascht waren“. Denn im Gegensatz zu den bis dato bekannten CS- oder CN-Gas -Einsätzen bei Demonstrationen kamen die Projektile mit hoher Geschwindigkeit flach über den Köpfen der Menge herangerauscht. Eines traf voll in die geöffnete Tür des VW -Busses der Demo-Sanitäter und detonierte im Innern des Autos.

Der Mann hatte die Premiere einer neu entwickelten Granatwerferpistole der Polizei erlebt, die sogenannte Mehrzweckpistole 1 (MZP 1), mit der sämtliche Länderbereitschaftspolizeien bis 1990 ausgerüstet werden sollen. Zu Testzwecken hatte eine Eutiner Hundertschaft in Brokdorf insgesamt 260 Projektile aus dem neuen Werfer verschossen und dabei mehrere DemonstrantInnen verletzt.

Die Metallprojektile sind mit einer dünnen Gummihaut überzogen, die sich im Flug etwas aufbläht und deshalb zu der Kondom-Assoziation provoziert.

Die MZP 1 war ursprünglich als Granatwerferpistole für die Bundeswehr entwickelt worden. Eine Serie von eigens für die Polizei entwickelten 40-mm-Projektilen darf ab kommendem Jahr übers aufmüpfige Volk gebracht werden:

-Die barrikadebrechende „Reizstoffpatrone“ RP 707, deren Metallmantel noch auf 50 bis 100 Meter Entfernung Türen (40 mm Preßspanplatte) und Fenster (3fach-Isolierverglasung) durchschlagen und CN/CS-Kampfstoff in dahinterliegende Räume entladen kann.

-Gegen Menschenmengen im Freien soll eine zweite Patrone (RP 708) von etwas über 20 Zentimeter Länge und mit einer Reichweite von ca. 120 Metern eingesetzt werden.

Das Leichtmetallgeschoß bleibt nach dem Aufprall nicht am Boden liegen, sondern vollführt unberechenbare hüpfende Bewegungen, damit es nicht von Demonstranten gepackt und zurückgeschleudert werden kann.

-Ein weiteres Projektil (RP 711) kontaminiert eine Fläche von 300 Quadratmetern mit Kampfstoffen. Die Patrone zerlegt sich vor dem Aufprall in fünf „Subkörper“, deren giftiger Inhalt sich dann über dem Zielfeld verbreitet. Reichweite: ebenfalls 120 Meter.

-Angeschafft werden auch Leucht- und Signalpatronen sowie Übungsmunition. Ebenfalls zur Verfügung stehen Nebelpatronen und Farbmarkierungspatronen, mit denen „Personen und Sachen (Fahrzeuge etc.) ... auf Entfernungen bis zu 60 Metern mit Tagesleuchtfarbe markiert werden“ können, weiß das Polizeizentralorgan 'Die Polizei‘ (10/85) zu berichten. Außerdem sollen zwei Versionen einer „Blitz-Knall-Patrone“ entwickelt werden, um „in besonderen Lagen ... zur Irritation“ im Freien und in geschlossenen Räumen auf vorgebliche Gewalttäter gefeuert werden zu können.

Aufrüstung nach sechs

Jahren Wendepolitik

Der endgültige Beschluß der Innenministerkonferenz fiel völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit während der Innenministerkonferenz in Celle im Frühjahr 1988. Vorausgegangen war eine mehrjährige Debatte, in der hartgesottene Polizeistrategen und Sicherheitsideologen der CDU/CSU nach und nach politischen Widerspruch und Bedenken aus den eigenen Reihen gegen die „Zimmermann-Orgel“ zum Verstummen brachten.

Bis zum Jahresende 1988 wurden bereits 396 Mehrzweckpistolen (Stückpreis: 1400 DM) ausgeliefert: Den Löwenanteil hat sich Bayern mit 90 Stück gesichert, gefolgt von Nordrhein-Westfalen mit 60 Stück, Hessen und Niedersachsen (je 54 Stück), Baden-Württemberg (49), Rheinland-Pfalz (30), Schleswig-Holstein (24), Hamburg (18), Bremen (12) und Saarland (6). Kein einziger Länderinnenminister hat sich der Ausrüstung seiner Bereitschaftspolizei mit der so praktischen Granatwerferpistole widersetzt. Die Landespolizeigesetze führen die MZP 1 allerdings noch nicht in ihren Verzeichnissen über die zugelassenen Waffen, ein Einsatz wäre deshalb zur Zeit rechtlich höchst fragwürdig.

Logistische

Bereinigung der

Waffenkammern

Das zweieinhalb Kilogramm schwere und mit ausgezogener Schulterstütze knapp 70 Zentimeter lange Waffensystem wird in den kommenden Jahren die bislang gebräuchlichen Schießgeräte für Kampfstoffmunition ablösen. Denn schon frühzeitig erkannten Polizeitechniker den Vorteil der neuen „Handwaffe mit Kipprohrverschluß“: „Durch die Einführung der Mehrzweckpistole (MZP) ist nicht nur eine Erweiterung der Einsatzmittel unterhalb der herkömmlichen Schußwaffe möglich, sondern darüber hinaus kann auf schon vorhandene Einsatzmittel (Schießbecher in verschiedenen Ausführungen und Signalpistole) verzichtet werden, wodurch eine logistische Bereinigung des Bestandes an Einsatzmitteln möglich ist“, schrieb 1983 das Fachblatt 'Polizei-Verkehr -Technik‘ (PVT, 11-12/83). Eine weitere technische Eigenschaft der MZP 1 mit eindeutig offensivem Charakter: Laut 'PVT‘ (11-12/83) sollen die „entsprechenden Patronen ... sowohl als gezielter Flachschuß bis 100 m, als auch als Steilschuß bis etwa 350 m verschossen werden“ können. Die Streuung läßt allerdings bereits nach wenigen Metern keine Zielgenauigkeit mehr zu, die Geschosse können lediglich ungefähr in ein größeres Zielgebiet placiert werden.

CN, CS,

Gummigeschosse? Alles

bereits serienreif

Die Kampfstoff-Patronen können wahlweise mit CN oder CS geliefert werden, je nachdem, was die unterschiedlichen Länderpolizeigesetze erlauben. In die Entscheidung der Länderinnenminister ist ebenfalls gestellt, ob sie für die MZP 1 zusätzlich Gummigeschosse anschaffen wollen. Der Hersteller, die baden-württembergische Waffenschmiede Heckler & Koch, hat bereits zwei Geschoßarten entwickelt: ein Hartgummiprojektil, das sich nach dem Abschuß in 16 Schrotsegmente zerlegt. Nach einem Gutachten des Rechtsmedizinischen Institutes der Universität Bonn für die Innenministerkonferenz können „bei direkten Treffern ganz erhebliche Verletzungen mit Dauerfolgen, einschließlich Erblindung auftreten“. Bei Treffern auf die Halsschlagader kann es zu einem „Handkanteneffekt“ kommen, der wiederum einen „plötzlichen Herzstillstand“ auslösen kann. Ein zweites Projektil ist der sogenannte Gummikompaktkörper, der sich nach Verlassen des MZP-Rohres zu einem Stern von rund 20 Zentimeter Durchmesser aufklappt und mit 180 Gramm Gesamtgewicht das derzeit schwerste Gummigeschoß auf dem Weltmarkt ist. Bei 75 Meter/Sekunde Abschußgeschwindigkeit kann das Wuchtgeschoß tödlich wirken.