Niedergang der Ovationskultur

Neunter Ordentlicher Parteitag der Deutschen Kommunistischen Partei ungewöhnlich unordentlich  ■  Aus Frankfurt Jan Feddersen

Die Miene des Vorsitzenden der Deutschen Kommunistischen Partei, Herbert Mies, versteinerte sich. Der erste Redner, der auf dessen knapp zweistündigen Rechenschaftsbericht antwortete, behauptete gerade, die DKP hätte „ein nur platonisches Verhältnis zur Arbeiterklasse“. Soviel Unbotmäßigkeit gegen die heiligen Glaubenssätze der „Partei der Arbeiterklasse“ war nie zuvor in der knapp 20jährigen Parteigeschichte zu hören.

Mies hatte zuvor in seinem Rechenschaftsbericht noch andere Töne angeschlagen. Er beschwor die Einheit der Partei und forderte, daß diese unbedingt erhalten bleiben müsse. Zwar gebe es „Meinungen und auch die Praxis“, die „heute zum Teil erheblich auseinandergingen“, aber dennoch sei die DKP „Teil...der Arbeiterbewegung“.

An die Adresse der „Erneuerer“, die seit gut zwei Jahren gegen den chronischen Stalinismus der Partei ankämpfen, richtete Mies die Drohung, daß „mit mehreren Linien... es sich in einer politischen Partei auf Dauer nicht erfolgreich Fortsetzung Seite 2

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kämpfen“ ließe. „Wir wollen keine 'Etikettierungen‘ oder Ausgrenzungen“, doch gleichzeitig befürchtete er, daß eine weitere Diskussion zu „politischen und menschlichen Konfrontationen“ führen könnten, die der DKP nicht gut anstünden. Er appellierte daher an die Mitglieder, „beim Suchen nach neuen Wegen“ den Marxismus-Leninismus nicht über Bord zu werfen.

Als wahrer Freund der Arbeiterklasse erwies sich Mies, als er von den „Erneuerern“ forderte, die Diskussion um den künftigen Kurs der Partei - Moskauer Linie a la Perestroika oder Ost-Berliner 'Sputnik'

Kultur - nicht zu unverständlich für die Arbeiterinnen und Arbeiter zu führen - als ob der malochenden Bevölkerung theoretische Debatten nicht zuzumuten seien und sie nur Stammtisch-Statements vertragen könnten. Als „Hoffnungsträger unserer Zeit“ bezeichnete Mies Parteichef Gorbatschow.

Mies befürwortete darüber hinaus - die Zeichen der Zeit gehen an ihm nicht spurlos vorüber - die Quotenregelung, die die Besetzung von mindestens 43 Prozent der Parteivorstandssitze mit weiblichem Funktionärspersonal vorsieht. Gleichzeitig schränkte er ein, diese Quotenregelung dürfe nicht dazu führen, daß die Arbeiterklasse („unsere Zielgruppe“) aus den Gremien herausgehalten werde. Frauen

keine Arbeiterklasse? Mies selbst fielen solche Lapsi nicht auf.

Während man dem Vorsitzenden völlig ungewohnt nur bescheidenen Applaus schenkte, liefen schon viele Delegierte unaufmerksam zum Präsidium und gaben ihre Diskussionsbeiträge ab. Ein absolutes Novum in der Ovationskultur der DKP. Daß er überhaupt auf die fordernden „Erneuerer“ so intensiv einging, ist als deren erster Erfolg zu werten. Reaktionen während der Mittagspause zur Mies -Rede: „Jetzt spar‘ ich mir den Kauf eines 'Titanic' -Sammelbandes“, „zum Einschlafen“ (was eine Genossin aus der norddeutschen Tiefebene auch prompt tat) oder auch: „Eine Eloge, die unter das Betäubungsmittelgesetz fällt.“

Kleiner Erfolg der 35 bis 40 Prozent

starken „Erneuerer„-Strömung: Die Wahl des Parteivorsitzenden Herbert Mies und seiner Stellvertreterin Ellen Weber, die eigentlich gestern abend durchgezogen werden sollte, findet erst heute statt - zusammen mit den anderen Parteivorstandsposten. An der Wiederwahl der Beiden besteht zwar kein Zweifel, weil die Mehrheit der Traditionalisten noch stark genug ist, doch anders als auf früheren Parteitagen werden Mies & Co. nicht mehr nur durch Akklamation bestätigt.

Für Vermutungen, die Partei könnte sich spalten, gibt es auf dem Frankfurter Parteitag keinen Hinweis.

Ellen Weber, Partei-Vizechefin, versuchte sich gestern vormittag zwei Stunden mühevoll mit der Eröffnung des Parteitages. Wer hat in

der DKP noch Angst vor Autoritäten?