Rede wider das Weltmeisterschaftstheater

■ Gespräch mit dem neuen Generaldirektor der Staatlichen Schauspielbühnen, Alfred Kirchner

taz: Wann kommen Sie genau?

Kirchner: Wir kommen nach den Sommerferien 1990 und überlegen uns, wann wir dann das Theater eröffnen. Wir wollen jedenfalls richtig, das heißt fundiert anfangen. Die Inszenierungen, die herauskommen, müssen gut vorbereitet und durchdacht sein. Anstatt daß, nur um den Betrieb in Gang zu halten, ein Ding nach dem anderen herausgehauen wird und die Qualität daran zu Grunde geht.

Sie haben von einem Theater für die Seele gesprochen...

Ich habe gesagt, daß das Theater nicht nur aus Weltmeisterschaften besteht, wo man nichts anderes im Kopf hat, als den aller-allergrößten Erfolg zu haben, sondern es könnte ja auch einmal sein, daß die Leute in einem derartigen Druck und Streß sich befinden, daß man vielleicht auch einmal ein Theater macht, das das Defizit der Seelen berücksichtigt, wo man vielleicht einmal anders hinhören kann und eine andere Sensibilität entwickelt. Ich bin ja der erste, der gerne auch mal auf den Putz haut und wunderbares Spektakel macht, aber man kann nicht einfach sagen: Welches sind die ersten fünf Bühnenbildner, welches sind die ersten sechs Regisseure, und dann telefoniert man überall herum und haut dann noch ein paar Schauspieler rein. Es hat ja oft Versuche gegeben, einfach durch Geld Mannschaften zusammenzustellen. Man müßte vielmehr aus dem Eigenen heraus, aus dem Theater heraus, aus den Regisseuren heraus etwas zum Blühen bringen.

Was ist das Defizit der Seele?

Seele ist natürlich ein Stichwort für Sensibilität, für Innenleben. Wenn man schon im Fernsehen die ganze Zeit bepflastert wird, muß doch das Theater aufpassen, daß dort nicht genau dasselbe gemacht wird und man wieder den tollsten Bühnenbildner mit 10.000 Einfällen und 20.000 Kilowattbeleuchtung auffährt, sondern daß man erstmal von den Themen ausgeht.

Ist das „Seelendefizittheater“ ein Gegenbegriff zum klassischen intervenierenden politischen Theater?

Vielleicht überlappt sich beides. Das politische Theater ist vor die Hunde gegangen, weil es oft zeigefinger -lehrhaft, hohl und langweilig wurde. Und deshalb würde ich natürlich immer das Theater als politisch bezeichnen, das die Umwelt so genau beobachtet, daß diese Erfahrungen in die Inszenierungen einfließen. Eine Klassikerinszenierung kann genauso politisch sein, wie etwa das modernste Stück von Peter Turrini, das ich gerade uraufgeführt habe, über die „Minderleister“, nämlich arbeitslose Stahlarbeiter. Die politische Effektivität von Theater hat eine große Spannweite. Schon wenn Sehweisen traditioneller Art gebrochen werden und die Leute ein Erlebnis haben, das für sie ganz neu ist, kann das eine politische Tat sein. Das Theater glaubte ja auch nach den 68er Jahren zu wissen, wo's lang geht, und daß mit dem Theater Veränderungen zu erzielen seien. Und das ist ja nicht so eingetroffen, wie man das gedacht hat. Ein Beispiel: Mutter Courage, Ende der 40er Jahre uraufgeführt, ist gegen den Krieg. Heute haben wir so viele Kriege auf der Welt wie nie zuvor, also fragt man vierzig Jahre später - nach der Effektivität einer solchen Aussage. Und trotzdem, wenn das Theater und diese Stücke nicht wären, könnte wahrscheinlich alles in eine totale Verrohung und totale Brutalität ausarten. Man kann aber nicht mehr naiv sagen: Wir machen jetzt solche Stücke, und die Leute werden anders. Die ganze Kunst ist gerade in einer gewissen Talsohle, wo man sich wieder aufbauen muß. Selbst die progressiven Regisseure der letzten Jahre sind in ein gewisses Repräsentationsgebaren reingekommen, bei dem die Ästhetik gegenüber dem Inhalt im Übergewicht ist.

Suchen Sie sich ein Thema und dann Leute, die zu diesem Thema etwas zu sagen haben?

Ich würde mir Regisseure wünschen, die durch ihre eigene Persönlichkeit zu den Themen etwas zu sagen haben. Das „Quer durch den Gemüsegarten“ ist eine große Gefahr, weil man natürlich von den Strukturen des Theaters - Einnahmesoll, Bedienung des Abonnements - zu einer hohen Zahl von Inszenierungen gezwungen wird. Da müssen wir uns Freiraum schaffen.

Wollen Sie die Werkstatt stärker als Werkstatt, zum Beispiel zur Förderung junger Autoren, nutzen?

Wenn ein Theater gut ist, muß man sich mit der Zeit auch trauen, moderne oder komplizierte Autoren auch in größeren Räumen zu spielen. Diese Abschottung oder diese Einteilung „moderner Autor“ kommt in die Werkstatt ist natürlich auch bedauerlich. Aber wenn ein wirklich ganz junger Autor in der Werkstatt etwas lernen kann, dann ist das in Ordnung. Aber es ist auch schön, wenn auch komlizierte Autoren im größeren Rahmen gespielt werden.

Sie werden sich also kühner zeigen, als ihr Vorgänger.

Auf Nummer sicher zu gehen und sich nicht zu trauen, ist natürlich ganz schlecht. Man muß gerade umstrittene Stücke in einem großen Haus spielen. Bei dieser Polarisation gibt es in der Stadt Themen, gibt es Spannung. Todsichere Stücke zu spielen, ist natürlich langweilig.

Sie haben ja in Stuttgart, in Bochum und Wien in den Werkstatt-Theatern oft Beiprogramme zu aktuellen Stücken oder auch Kommentare zum aktuellen Zeitgeschehen in Form von Inszenierungen, Lesungen, Liederabenden und Publikumsdiskussionen gemacht.

Das sollte man bestimmt beibehalten, beziehungsweise hier neu einführen. Gerade diese Diskussionen sind ein ganz starker Kommunikationspunkt mit den Leuten.

Es gibt hier die auf Kampagnen spezialisierte Besucherorganisation von Ottfried Laur. Haben Sie vor denen Angst?

Ich finde es schade, daß er nie ein Stück von mir gesehen hat, sonst wüßte er, daß wir auch gerade beim Publikum sehr erfolgreich sind. Wenn die Macht von solchen Besucherorganisationen auf der Basis von falschen Ansichten mißbraucht wird, dann macht das allerdings das Theater kaputt. Andererseits kann den Besucherorganisationen nichts besseres passieren, als daß gutes Theater gemacht wird. Da muß man sich eben mit denen auseinander setzen. Davor habe ich keine Angst.

Wäre es ihnen nicht lieber gewesen, zuerst mit dem Ensemble zu sprechen?

Natürlich wäre mir das lieber gewesen, doch das war durch die Ereignisse an Weihnachten schwierig. Wir werden das jetzt aber nachholen, denn das Ensemble ist immernoch das Wichtigste am Theater. Aber das Ensemble sollte jetzt erstmal noch mit Sasse in Ruhe arbeiten und sich nicht weiter verunsichern lassen.

Das Schillertheater hat ja relativ viele lebenslängliche Staatsschauspieler.

Das hat sich schon sehr geändert, aber es ist eine soziale Errungenschaft, daß ein Mensch, der lange Zeit an einem Theater war, nicht gleich rausgeschmissen wird. Dazu muß man stehen. Man muß eben sehen wie gut die Leute sind, und danach werden sie dann eingesetzt. Das bestimmt nicht der Intendant, sondern die Regisseure. Es wäre aber gut, wenn im Laufe der Zeit ein tolles Ensemble entstünde - mit diesen Schauspielern und denen, die ich eben kenne. Man muß sehen, welche Symbiose man da hinkriegt.

Müssen sie nicht befürchten, daß der Alleingang des Kultursenators auf ihrem Rücken ausgetragen wird?

Das ist uns in Wien auch so gegangen. Aber solche Verhandlungen sind eben so außerordentlich schwierig, daß man eventuell, bis man dann auch noch alle gefragt hat, nie zu einem Ergebnis kommt.

Interview: Gabriele Riedle