Gestatten, mein Name ist

Orwellsche Verhältnisse im ehemaligen Datenschutz-Musterland Schweden / Fast alle persönlichen Angaben sind allgemein zugänglich / Die totale Erfassung durch den Staat wird ergänzt durch den - völlig legalen - schwunghaften Handel privater Datenregister / Ohne die sechsstellige Personennummer geht nichts mehr  ■  Von Gunnar Köhne

Eva ist eine gewöhnliche Schwedin. Die alleinstehende junge Büroangestellte aus der kleinen Stadt Örebro wird von ihren Mitmenschen respektiert und gemocht und hat sich nach eigenem Dafürhalten nie etwas zuschulden kommen lassen. Dennoch, und für Eva bis heute unerklärlich, bekam sie eines Tages einen anonymen Feind, der ihr telefonisch versprach, ihr so lange die Hölle heiß zu machen, bis sie „reif für die Irrenanstalt“ sei. Der Unbekannte hätte sein Ziel fast erreicht - durch eine schier unglaubliche Methode: Nachdem er sich bei den Sozialbehörden das entsprechende Formular besorgt hatte, ließ er Eva unter ihrer Personennummer als psychisch krank registrieren. Die Angaben auf dem Blankett, das normalerweise nur ein Arzt ausfüllen darf, wurden von den zuständigen Beamten nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Nur durch einen Zufall fand Eva in diesem Sommer heraus, was noch alles in der elektronischen Datenkartei der Sozialbehörde über sie gespeichert worden war: prostituiert, alkoholkrank, langjähriger Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Jetzt konnte sie sich auch erklären, warum sie bei einem Gesundheitstest von einer Krankenschwester der Lüge bezichtigt worden war, nachdem sie auf die Frage nach psychischen Störungen wahrheitsgemäß mit „nein“ geantwortet hatte. Das Sozialamt von Örebro bestätigte später, daß für die Eintragung „Prostituierte“ sogar nur ein anonymer Hinweis genügte.

Orwellsche Szenen in dem Land, das 1972 als erstes in Europa den gesetzlichen Datenschutz eingeführt hatte. Heute ist Schweden zu einem Staat verkommen, in dem es „um den Datenschutz schlimmer steht als irgendwo sonst“, wie Jan Evers, Datenschutzexperte an der südschwedischen Universität Lund, bestätigt. Evers hat in einer Untersuchung die Datenschutzpraktiken in verschiedenen Ländern Europas verglichen und ist dabei zu deprimierenden Resultaten für sein Land gekommen. Nirgendwo, so Evers, kann man so leicht personenbezogene Daten über jedermann bekommen wie in Schweden. In Evas Fall wären zwar „sensible Daten“ wie über ihre angebliche Krankheit vor der Öffentlichkeit geschützt gewesen, aber schon ihr vermeintlicher Beruf als Strichmädchen war eine „offene Information“. Hätten beispielsweise Evas Arbeitskollegen von dem großzügigen Angebot der Behörden Gebrauch gemacht, wäre die Psychoterror -Rechnung des Unbekannten möglicherweise aufgegangen. Angaben über Einkommen, Arbeit, Wohnverhältnisse und Familienstand kann jeder, egal ob Schwede oder Ausländer, per Anfrage aus einem der landesweit gut 3.000 „behördlichen Personenregistern“, in denen Bürgerangaben gespeichert sind, abrufen. Jan Evers gibt dafür ein absurdes Beispiel: „Eine Liste von allen Witwen von Östergötland im Alter von 50 Jahren und darüber mit einem Vermögen von mehr als einer Million Kronen zu bekommen, ist kein Problem.“ Besonders Versandfirmen wissen diesen Selbstbedienungsladen zu schätzen. Allerdings müssen sie für diesen Ämterservice bezahlen. Die Informationen brauchen sie nicht nach Gebrauch wieder zu löschen, und so gibt es heute nach Schätzungen des Datenschutzamtes in Stockholm landesweit rund 60.000 private und behördliche elektronische Personenregister. In keinem anderen Land ist der Bürger so erfaßt wie im einstmaligen Musterland Schweden.

Und der Datenschutz nimmt immer weiter ab. War es bis 1982 noch Pflicht, für jedes neu einzurichtende Register bei der Datenschutzbehörde eine Genehmigung einzuholen, müssen heute nur noch Dateien mit den erwähnten „sensiblen“ Informationen staatlicherseits abgesegnet werden. Der letzte Beitrag der sozialdemokratischen Regierung zur totalen Erfassung: Seit Frühjahr 1988 gibt es eine landesweite Erfassungsdatei, die der Polizei erlaubt, auch nur verdächtige Personen abzuspeichern.

Diese Zustände sind in Schweden so gut wie kein Gegenstand öffentlicher Diskussionen - ein Streit über den Datenschutz wie in der Bundesrepublik zur Zeit der Volkszählung ist in Schweden undenkbar. Mit diesem Thema lassen sich dort auch keine Wahlen gewinnen, auch die neu in den Reichstag gewählten Grünen haben dazu nichts zu sagen. Zwar gibt es ein kritisches „Daten- und Öffentlichkeitskomitee“ und eine Bürgerrechtsbewegung „Freiheit in Schweden“, doch deren Mitglieder fallen zahlenmäßig nicht ins Gewicht. Höchstens bei Bekanntwerden eines besonders eklatanten Falles von Datenmißbrauch wie bei Eva können sie mit öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen.

Die Schweden sind mit der Öffentlichkeit ihrer persönlichen Angaben aufgewachsen. Sie haben gelernt, daß der Sozialstaat, das von den Sozialdemokraten nach 1945 ausgerufene „Volksheim“, in dem alle Bürger in Gleichheit, Freiheit und Wohlstand zusammenleben sollen, ohne ihre Offenheit nicht funktionieren kann. Wie kann man, so die Argumentation der schwedischen Sozialdemokraten, in einem „Heim“ gleichberechtigt miteinander leben, wenn einer dem anderen etwas verheimlicht?

Und so leben die Schweden weiter unbekümmert mit ihren 60.000 Datenregistern und ihrer Personennummer, ohne die sie nur ein halber Mensch wären. Denn ohne die vierstellige Zahl plus Geburtsdatum können sie kein Geld verdienen, nicht krank sein und nicht sterben (Prima: Keine Maloche, Gesundheit und ewiges Leben ohne Register also, das ist es! d.S.). Ohne die zehn Ziffern können sie noch nicht einmal Möbel bestellen bei Schwedens verrücktem Möbelhaus. Verrückt, was?