Sit-ins für die Egalite

Frankreichs StudentInnen haben mit den politischen Traditionen der 68er gebrochen: Statt Weltrevolution gleiche Chancen für den Aufstieg / Ihre Aktionen im Herbst 88 wandten sich gegen die Studienbedingungen  ■  Aus Paris Georg Blume

Mit Hörsaalbesetzungen im ganzen Land, Sit-ins, Demonstrationen und einem vielbeachteten Hungerstreik ausländischer Kommilitonen an der Pariser Universität Villetaneuse zu Beginn des laufenden Semesters hatten Frankreichs Studenten der Nation erneut klar gemacht, daß ihnen auch zwei Jahre nach ihrem großen Aufstand die Gründe für den Protest nicht genommen sind und sie weiterhin willens sind, ihrer Unzufriedenheit Ausruck zu verleihen.

Zur Erinnerung: Mit den französischen Schüler- und Studentenstreiks im November/Dezember 1986 sah sich die gesamte westliche Welt nicht nur - scheinbar urplötzlich mit der bis zum heutigen Tage größten und machtvollsten Jugendbewegung dieses Jahrzehnts konfrontiert; die Pariser Ereignisse des Spätherbstes vor zwei Jahren gaben auch erstmals einer neuen studentischen Protestkultur Profil und Gewicht, die seither zunächst in Spanien und Italien und heute nun vor allem in der Bundesrepublik das Universitätsleben verändert.

Paris '86 war nicht zuletzt der lange überfällige Schlußstrich unter den Mai '68. Studenten in allen westeuropäischen Ländern hatten das gespürt. Endlich vorbei war die Zeit, in der studentische Interessenvertretung gleichzeitig das Siegel einer politischen Moral oder Idee tragen mußte, wie es die Väter des berühmten Mai gelehrt hatten. In Paris '86 hieß die Forderung erneut „Gleichheit“, doch nicht mehr für die ganze Welt und Che Guevara, sondern in den eigenen vier Wänden, an der Uni und bei der Vergabe von Studienplätzen. Innerhalb weniger Tage lernte damals eine Generation, das zu sagen, was sie wollte: ein ruhiges Studium, eine gesicherte Zukunft. Nur einige wenige Vordenker der Studenbewegung von 1968, wie etwa der Hannoveraner Oskar Negt auf bundesdeutscher und der Pariser Soziologe Pierre Bourdieu auf französischer Seite, erkannten den Pariser Studentensturm und seine Folgen als generations und damit epochewendendes Ereignis.

Eliteschulsystem

und überfüllte Hörsäle

Die Tausende von Studenten auf den Pariser Boulevards, unter deren Geschrei die im Herbst 1986 regierenden Rechtsparteien mit Premierminister Jacques Chirac an der Spitze fast aus ihren Ministerämtern geflüchtet wären, änderten freilich so schnell nichts an der katastrophalen Realität der französischen Universitäten. Zwar hatte die Studentenbewegung einen großen symbolischen Sieg erfochten das neue Hochschulgesetz der französischen Konservativen wurde auf Nimmerwiedersehen in die Schubladen geräumt -, doch die zwingenden Probleme blieben auf dem Tisch: Allen voran ist Frankreichs umfangreiches Eliteschulsystem, dem noch heute die napoleonischen Züge anhaften und das sich in einem Land, das bisher nicht genug Akademiker ausbildet, besonders destruktiv auswirkt, weiterhin ein in der Hochschuldiskussion scheinbar unzugängliches Tabu.

Rund eine Million Studenten treiben sich heute an Frankreichs Unis rum, hocken, stehen, liegen und sitzen im privilegierten Falle vor ihrem Professor. So traumatisch muten schon auf den ersten Blick die räumlichen Verhältnisse an den französischen Hochschulen an, daß es den Bildungsleidenden als bitterer Witz erscheinen muß, wenn die Pariser Politiker, meist sogar ungeachtet der Parteigrenzen, konsequent weiterposaunen, daß es mit ihrer Politik in Frankreich alsbald - in zehn oder 15 Jahren - doppelt so viele Studenten (in Zahlen: zwei Millionen) geben werde. Wer dann allerdings die neuerwählten Bildungsbürger unterrichten und in welchen Mauern dies geschehen solle, ist offen.

Einziges positives Zeichen dieser Studentenzeit: Fran?ois Mitterrand hatte sich, wohl gedenk jener Jungwähler, die im Herbst '86 deutlich genug gesagt hatten, daß sie Politikern fortweg nicht wegen Ideen, sondern nur noch wegen ihrer tatsächlichen Entscheidungen Glauben schenken werden, im Wahlkampf das Versprechen abringen lassen, innerhalb der nächsten fünf Jahre zusätzliche fünf Milliarden Mark ins französische Schulsystem zu investieren, und will nun prozentual entsprechende Zuschußerhöhungen auch den Universitäten zugute kommen lassen.

Währenddessen bleiben die französischen Studenten unruhig. Ihre oftmals spektakulären Aktionen im Herbst '88 zeigten ihren beständigen Widerstandswillen, auf dem sich die stolze Vergangenheit nun jedoch als Last bemerkbar macht. Heute sind die Führer von gestern, die im Herbst '86 nationale Berühmtheit erlangten, in die Falle der politischen Parteiarbeit geraten und dabei zu blassen Randfiguren verkommen. Ihr „schlechtes“, darum in den Medien um so stärker zutage gefördertes Beispiel, hat die Studenten einen Gutteil der öffentlichen Sympathie gekostet, auf die sie in Frankreich bisher ihren Protest aufbauen konnten.

Erst kurz vor Weihnachten, zum zweijährigen Todestag des damals von Polizisten auf offener Straße erschlagenen Studenten Malik Oussekine, zeigten die französischen Filmemacher Francis Kandel und Franck Schneider bei einer Uraufführung in der Pariser Sorbonne-Universität ihr Dokumentationswerk über den Herbst 1986. Der grandiose Applaus, den der Film an diesem Abend bekam, konnte dennoch nicht verbergen, wie zwiegespalten heute sogar die Studenten auf die damaligen Ereignisse zurückblicken. Zum erwähnten Anlaß in der Sorbonne sprach auch der Bruder des ermordeten Malik Oussekine noch einmal. Er mußte berichten, daß die Verfahren gegen Polizisten, die wegen ihrer Gewalttätigkeiten während der Pariser Unruhen angeklagt wurden, voraussichtlich noch in diesem Frühjahr eingestellt werden. Selbst in Frankreich, wo man sagt, die Liebe zu den Studenten reiche weit, reicht doch die Liebe zur Polizei weiter.