Wenn die Medien Trauer tragen

Mit schon routinierter Präzision scheuen die britischen und internationalen Medien keine Peinlichkeit im Kampf um Auflagen und Einschaltquoten / Der mediale Konkurrenzkampf hat den Unfallort erreicht  ■  Aus London Rolf Paasch

Samstag, 9.1., 20.26 Uhr:Die Boeing 737 der Fluggesellschaft „British Midland“ verschwindet vom Radarschirm der Flugkontrolle und stürzt nach dem Überfliegen der Ortschaft Kegworth kurz vor der Landebahn des East Midland Airport auf eine Autobahnböschung. Von nun an beginnt der makabre Countdown der Medien für die lebendigste Desaster-Berichterstattung. Das Katastrophenstück, das vor 17 Tagen im schottischen Lockerbie uraufgeführt wurde, wird nun mit schon routinierter Präzision wiederholt. In London stürzen sich Zeitungsjournalisten in ihre Autos, die Fernsehgesellschaften hetzen ihre lokalen Kamerateams zur Unfallstelle, wo sie in amerikanischer Manier fast gleichzeitig mit den Rettungsmannschaften eintreffen. Die Scheinwerfer der Rettungshubschrauber leuchten von nun an nicht nur den Ärzten und Helfern, sondern auch einer sensationshungrigen Öffentlichkeit.

Ein Reporter vor dem Wrack, aus dem gerade die Leichen geborgen werden; ein Reporter vor dem Krankenhaus, wo hinter ihm menschliche Wrackteile eingeliefert werden; eine Reporterin unter den vergeblich wartenden Angehörigen auf dem Belfaster Flughafen, für die - und hier klingt der Nachrichtensprecher beinahe stolz - sogar die VIP-Lounge freigeräumt wurde. Die Katastrophe macht den sozialen Aufstieg möglich. Verzweifelte und weinende Angehörige, „that's the stuff for prime time TV“, würde jetzt ein abgebrühter Medien-Analyst sagen.

Und dann die Fragen: dumme Fragen an Feuerwehrleute, peinliche Fragen an Ärzte und Augenzeugen und unverschämte Fragen an die überlebenden Opfer, oder die, die mit ihnen gesprochen haben. Nach dem deskriptiven Teil des Interviews steht am Ende immer die Erkundigung nach dem „feeling“. Wo die Emotionen noch taub sind, das Entsetzen noch sprachlos, wird das Gefühl zur Not auch gewaltsam aus Zeugen und Opfern herausgelockt. Die Sendezentrale fordert die Visualisierung der Betroffenheit.

Die Informationsgesellschaft will alles wissen; zumindest alles, was unter diesen unsäglichen Begriff des „human interest“ fällt. Die Fähigkeit, betroffenes Schweigen zu demonstrieren, schafft eben keinen Anstieg der Zuschauerzahlen, sondern nur ein Zurückfallen hinter den Konkurrenten des rivalisierenden Networks. Der mediale Konkurrenzkampf hat längst den Unfallort erreicht.

Montag, 10.1., 8 Uhr: „Good Morning Britain“, Frühstücksfernsehen. Leichenteile for breakfast. Wer geglaubt hatte, den Gesichtern der Moderatoren des allmorgendlichen Muntermacher-Spektakels wäre ihr ewiges Lächeln schon zur zweiten Natur geworden, wird eines besseren belehrt. Heute tragen sie alle Trauer; das erscheint noch viel peinlicher als sonst, so, als müßten die Akteure aus Dallas in einem Tennessee Williams-Drama agieren. Mit belegter Stimme werden die Reporter erneut live angerufen. Der Mann am Unglücksort sieht programmgemäß müde und übernächtigt aus. Obwohl er die ganze Nacht für die Fernsehnation Wacht gehalten hat, fällt ihm nicht mehr viel Neues ein; der Reporter vor dem Krankenhaus hält einen plastischen Vortrag über die aufgetretenen Verletzungen, als spräche er zu Unfallchirurgen; und die Reporterin aus Belfast versichert uns, daß sich die gestreßten Angehörigen längst in der Obhut geschulter Sozialarbeiter und Psychologen befinden. Zurück im Studio sagen Experten, es sei viel zu früh, etwas zu sagen. Am Ende der Übertragung wird den Rettungsmannschaften und Helfern für ihren heroischen und vorbildlichen Einsatz gedankt. In der Ära Thatcher bedarf es mittlerweile bereits einer solchen Katastrophe, damit in der Öffentlichkeit auch noch einmal etwas Positives über die Vorteile und Leistungen des staatlichen Gesundheitsdienstes gesagt werden darf.

Großbritannien nach der Katastrophe: Die internationale Presse hat sich am Unfallort häuslich eingerichtet und wartet auf die eintreffenden Angehörigen und die anschließenden Begräbnisse. In Lockerbie wie in Kegworth werden die Anwohner, die dem Unglück knapp entgangen sind, mit fast anthropologischer Neugier auf ihre psychologischen Katastrophenreflexe hin studiert: „Der Schotte (Mittel -Engländer, ...) nach dem Boeing-Effekt.“ Wenn dann die Messen und Begräbnisse beginnen, verwandeln sich die „Peeping Toms“ hinter den Kameras, die Besatzer der Medien -Tyrannei plötzlich in anteilnehmende Katastrophen-Poeten. O -Ton 'dpa‘ zur Beerdigung der Lockerbie-Opfer: „Nebel senkte sich über die kahlen Hügel, auf denen friedlich die Schafe grasten, als ob es die furchtbare Nacht der Katastrophe nicht gegeben hätte. Leiser Nieselregen fiel vom Himmel, von dem am Abend des 21.Dezember Feuer, Trümmer und Leichen auf Lockerbie gestürzt waren ... Und endlich schwiegen auch die Hubschrauber der Suchmannschaften, deren immerwährendes Geknatter die Tage nach dem Unglück wie ein böses Echo begleitet hatte.“

Ach, wenn es die Presse den Hubschraubern doch gleich getan hätte. „Der Weg zum Licht“, so wird der Geistliche aus Lockerbie zitiert, „führt manchmal durch dunkle Täler.“ Der Weg zu Katastrophen-News scheint ein einziges mediales Jammertal.