Zaubermittel gegen die Fachidioten?

Am Anfang herrschte Euphorie. Die protestierenden StudentInnen trafen sich in autonomen, in „interdisziplinären“ Seminaren und hatten den Eindruck, den deus ex machina gefunden zu haben, um der Enge der eigenen Fachdisziplinen zu entrinnen. Doch mittlerweile stehen hinter dem vermeintlichen Zauberwort „Interdisziplinarität“, das die Türen zu einer befreiten Hochschule öffnen soll, viele Fragezeichen. Den Auftakt machte auf dem UNiMUT-Kongreß der Oldenburger Soziologe und Alt-SDSler Wolfgang Nitsch, als er auf einer Podiumsveranstaltung darauf hinwies, daß „in der Industrie interdisziplinärer gearbeitet wird als an der Uni“. Mittlerweile fragen sich viele in der jungen Protestler -Generation, welche Türen da eigentlich für wen geöffnet werden.

Trotzdem: Die Frage nach fächerübergreifender Ausbildung gehört zu ihren zentralen Anliegen. In Frankfurt wurde gar ein studentisches Institut gegründet, das zum einen im kommenden Sommersemester eigene („autonome“) Lehrveranstaltungen anbieten und zum anderen Einfluß auf die offizielle Lehre in den Einzeldisziplinen nehmen will. Auch auf dem UNiMUT-Kongreß beschäftigten sich die rund fünfzig TeilnehmerInnen eines Seminars mit der Frage, ob es sinnvoll ist, vor das jeweilige Fachstudium zwei Semester studium generale zu schalten - als Orientierungsphase und „zum gegenseitigen Kennenlernen“. Denn die Schwierigkeit, die eigene Disziplin später einmal „mit anderen Augen zu sehen“, steige proportional zur Semesterzahl. „Am Ende stehen dann Fachidioten“, klagte wohl nicht zufällig ausgerechnet ein Chemiker.

In Arbeitsgruppen versuchten die StudentInnen, sich dem Problem zu nähern. Eine Gruppe hieß zum Beispiel „Babylon“. Ihr Thema: das Sprachwirrwarr zwischen den Disziplinen und die unterschiedliche Begriffsbildung, die interdisziplinäres Arbeiten schwierig macht. Als es dann darum ging, auf dem Plenum des Seminars Bericht zu erstatten, war von den „Babylon„-ForscherInnen niemand da. Die Erklärung war schnell gefunden: „Die haben sich wohl nicht verstanden“, hieß es trocken. Ein anderer Student berichtete von einem ähnlichen interdisziplinären Flop. An seiner Uni hätten sich Germanisten und Mathematiker zusammengesetzt, um über Science-fiction-Literatur zu reden. Die Debatte habe in scharfen Angriffen der exakten Wissenschaftler gegen die phatastischen Literaten geendet: die hätten eben keine Ahnung von physikalischen Berechnungen, klagten die Mathematiker, deshalb seien solche Bücher „einfach blöd“. Wegen dieser Haltung sei es wichtig - so formulierte eine Studentin in Berlin - „die Haltung aufzuknacken, daß jeder mit seiner Disziplin die Krönung der Wissenschaft“ repräsentiere.

Auf die Idee, eine Miniaturausgabe des studium generale wiederaufzulegen, kamen die SeminarteilnehmerInnen, als eine Studentin von ihren Erfahrungen am Leibniz-Kolleg der Universität Tübingen berichtete. Das bietet für zwei Semester eine fächerübergreifende Ausbildung an. Daß ein solches Studium nur einen kleinen Einblick in die verschiedenen Fächer geben könne, war den TeilnehmerInnen klar. Attraktiv sei es trotzdem: Jemand, der sich schon mal mit Philosophie beschäftigt habe, werde in seinem späteren Chemie-Studium möglicherweise „auf ganz neue Fragestellungen“ kommen.

An diesem Punkt hätte die Diskussion eigentlich auf die Erfahrung mit den interdisziplinären Studiengängen kommen müssen, die mit den Hochschulreformen seit Ende der sechziger Jahre eingeführt worden waren. Waren es nicht gerade die traditionellen Fachdisziplinen und - hinter ihnen - „die Wirtschaft“, die von solch einer kritischen Interdisziplinarität wenig wissen wollten und gemeinsam mit der christlich-demokratischen Gegenreform an den Hochschulen dafür sorgten, daß den meisten interdisziplinären Grundstudiengängen ein früher Tod beschieden war? Doch solcherart historische Kontinuität fehlt der Protestbewegung noch - allerdings auch nicht aus eigener Schuld.

CC Malzahn/mr