HILFE - WIR KRIEGEN DIE KNÄSTE NICHT MEHR VOLL!

■ „Perspektiven für die Zukunft“ der Knastwächter in Niedersachsen

Die Bundesrepblik Deutschland hat das niedrigste Geburtenniveau der Welt. Wurden 1964 noch 1,1 Mio. Geburten gezählt, waren es 1986 knapp 700.000. Die Tendenz ist weiter fallend. Die geburtenschwachen Jahrgänge wandern jetzt auch, beginnend beim Jugendvollzug, durch unsere Justizvollzugsanstalten. Laufen die niedersächsischen Gefängnisse leer? Überall im Land werden Prognosen auf die zukünftige Entwicklung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland gewagt, nachdem die Illustriertenfrage, ob die Deutschen aussterben, Allgemeingut geworden ist. Ganz unbestreitbar haben die zurückgehenden Geburtenzahlen unmittelbare Auswirkungen auf alle öffentlichen Einrichtungen. Unsere Gefängnisse bleiben davon nicht verschont. Schon jetzt können wir einen geradezu dramatischen Rückgang bei Jugendlichen, Heranwachsenden und Jungtätern feststellen, der sich in den nächsten Jahren noch verstärken wird, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge in ihrer vollen Breite in den niedersächsischen Justizvollzug hineinwachsen.

Seit 1983 sind unsere Gefangenenzahlen um rund 20 Prozent zurückgegangen. Zwar hat sich ihre Zahl heute bei rund 5.300 eingependelt, dennoch ist in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mit einem weiteren Rückgang zu rechnen, wobei der Umfang der zukünftigen Rückgänge nicht nur von der Bevölkerungsentwicklung, sondern auch von anderen Voraussetzungen abhängig ist.

Der Sinn langfristiger Prognosen wird oft bestritten. Leider kann aber der Justizvollzug auf Vorausschätzungen in die Zukunft nicht verzichten, da wir nur mit erheblicher Verzögerung etwa auf Zuwächse reagieren können. Der Planungsvorlauf bei Gefängnisneubauten beträgt heute mehr als zehn Jahre, die Ausbildung des benötigten Personals ist auch nur mit einem Vorlauf von mehreren Jahren sicherzustellen.

Wir sind also gezwungen, Prognosen zu wagen, auch wenn wir überall darauf hinweisen müssen, wie unsicher diese Prognosen sind. Dennoch arbeiten die Aufsichtsbehörden in allen Bundesländern daran, die Zuverlässigkeit der Vorausschätzungen zu verbessern. Inzwischen gibt es vielfältige Übereinstimmungen.

1. Warum gehen die Gefangenenzahlen zurück?

Die Gründe für den Rückgang der Gefangenenzahlen der vergangenen Jahre liegen nicht nur in der demographischen Bewegung und hier vor allem im Rückgang der besonders kriminalitätsaktiven Jahrgänge zwischen 14 und 35 Jahren (1975 15 Mio., 1986 13 Mio., 2005 8,9 Mio.), sondern auch trotz unveränderter Rechtslage - bei der veränderten Spruchpraxis der Gerichte:

Nur sechs Prozent aller Verurteilten erhielten noch eine unbedingte Freiheitsstrafe, aber 83 Prozent eine Geldstrafe.

Die Zahl der Strafaussetzungen oder Entlassungen auf Bewährung nimmt ständig zu. Die Zahl der Untersuchungsgefangenen ist in Niedersachsen in wenigen Jahren um 40Prozent gesunken. (...)

2. Gibt es auch Gegentrends?

Alle in Aussicht genommenen gesetzlichen Änderungen werden die Gefangenenzahlen zusätzlich verringern.

Gegenläufige Entwicklungen (Umwelt- und Wirtschaftskriminalität, organisiertes Verbrechen, Drogen und Menschenhandel) werden nur teilweise einen Ausgleich schaffen.

3. Ausländische Wohnbevölkerung beeinflußt Kriminalität

Ausländische Gefangene der ersten bis dritten Generation werden aller Voraussicht nach den Rückgang bei den deutschen Gefangenen teilweise auffangen. Alle Prognosen gehen davon aus, daß die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland von heute 4,5 Mio. in den nächsten Jahren auf bis zu sechs Mio. steigen wird. Schon heute ist jeder fünfte von der Polizei ermittelte Tatverdächtige Ausländer, in Frankfurt jeder zweite...

Bei Kapitalverbrechen beläuft sich der Ausländeranteil auf durchgängig 20Prozent. Im niedersächsischen Vollzug sind sieben Prozent Ausländer, wobei der Anteil bei den erwachsenen Männern acht Prozent und bei den Jugendlichen elf Prozent beträgt. Ihr Anteil steigt. (...)

4. Bringen Aussiedler Probleme?

Niemand kann heute einschätzen, ob nicht der Geburtenrückgang der deutschen Bevölkerung wettgemacht wird durch eine verstärkte Zuwanderung deutscher Aussiedler aus dem Osten.

Die Zahlen der letzten Monate zeigen hier einen dramatischen Anstieg, wobei das Kriminalitätsverhalten der Aussiedler überhaupt noch nicht eingeschätzt werden kann.

5. Einstellung der Bevölkerung zu Strafverfolgung und Strafvollzug

Unvorhersehbar bleibt auch, ob sich nicht die Einstellung der Bevölkerung zur Kriminalität und ihrer Bekämpfung grundsätzlich ändert. 1987 sind 4,444 Mio. Straftaten erfaßt worden, 1966 waren es erst 1,9 Mio. Die Aufklärungsquote lag nur noch bei 44Prozent (Niedersachsen 45,4Prozent). Erfolg oder Mißerfolg der Kriminalitäskontrolle beeinflußt aber mittelbar Lebensgefühle, Einstellung und Werthaltung der Bevölkerung. Ihr Sicherheitsgefühl und seine Beeinträchtigung kann durchaus härtere Gegenwehr aller beteiligten staatlichen Insitutionen herausfordern. Man kann deshalb nicht genug betonen, daß eine sichere Unterbringung der Gefangenen und die Verwirklichung eines konsequenten Resozialisierungsvollzuges keine Gegensätze sind, sondern gegenseitige Bedingung.

Alle Gesichtspunkte sprechen dafür, daß die Gefangenenzahl in den nächsten Jahren weiter zurückgehen wird. Dieser Rückgang wird langsamer sein als in den letzten Jahren und vor allem die Jugendanstalten, den Untersuchungshaftvollzug und den offenen Vollzug treffen. Der geschlossene Vollzug und der Frauenvollzug werden zunächst noch geringe Steigerungen erfahren. Dem kann durch Veränderungen bei der Anstaltsorganisation begegnet werden. Die regional ungleiche Entwicklung in Niedersachsen wird bleiben. Hier muß der Vollstreckungsplan gegensteuern. Im übrigen gibt die zurückgehende Gefangenenzahl endlich die Möglichkeit, die vorhandenen, zum Teil sehr alten Anstalten grundlegend zu sanieren und verbesserte Arbeits- und Wohnmöglichkeiten für Bedienstete und Gefangene zu schaffen.

Im übrigen soll an der Verteilung der Anstalten im Land nichts geändert werden. Sollten Gebäude nicht mehr benötigt werden, so sind sie innerhalb großer Anstalten stillzulegen.

Auf Dauer können wir auf sie nicht verzichten, denn - siehe oben! - die Entwicklung des niedersächsischen Justizvollzuges könnte auch anders verlaufen.