Auch die Rocklänge bestimmt der Vater

■ Junge Nordafrikanerinnen im Konflikt mit traditionellen islamischen Familienstrukturen und emanzipatorischen Ausbruchsversuchen / Aufrechterhaltung der kulturellen Identität als Zwangsmaßnahme / Ermüdender Kleinkrieg um jede freie Minute und die Angst vor der „arrangierten“ Ehe

Frank Ballot

Wenn Yasmina L. nachmittags aus der Schule kommt und in der Metro verschwindet, sieht sie nicht anders aus als die meisten ihrer Klassenkameradinnen: Knallenge Jeans, modisch geschnittener Blouson, schockfarbene Pumps, Lippenstift und Lidschatten.

Eine halbe Stunde später und einige Metrostationen weiter ist sie kaum wiederzuerkennen. Das Make-up ist verschwunden, an die Stelle des Jeans-Looks sind Strickjacke, biederer Faltenrock und flache Schuhe getreten. Aus der lässigen jungen Frau ist ein unscheinbares Schulmädchen geworden. Der Grund für diesen Kostümwechsel, der sich in routinierter Eile zweimal täglich bei einer Freundin vollzieht: Yasmina ist Algerierin. Jedenfalls steht das in ihrem Ausweis. Aufgewachsen ist sie allerdings in Paris, und fragt man sie, als was sie sich nun eigentlich fühlt, meint sie nur: „Als richtige Pariserin.“

Und genau das ist ihr Problem. Denn würde man ihrem Vater dieselbe Frage stellen, wäre die Antwort mit Sicherheit: „Als richtiger Algerier.“ Richtiger Algerier bedeutet aber nichts weiter, als daß Herr L. in den 20 Jahren, die er nun schon in Frankreich lebt, seine Ansichten zwar in vieler Hinsicht geändert hat, nur nicht in einer, nämlich wie eine „anständige“ Tochter sich zu verhalten hat. Also kein Make -up für Yasmina, keine modische Kleidung und keine „unanständigen“ Schallplatten. Kinobesuche nur in familiärer Begleitung, und eine halbe Stunde nach Schulschluß heißt es, Zuhause zu sein - keine Minute später. Basta. Als sie vor einem Jahr im Minirock am häuslichen Abendbrot-Tisch erschienen war, hatte es einen Riesenkrach gegeben, der fast zu einer Tragödie geworden wäre, nachdem eine sofortige Inspektion ihrer Schultasche dann auch noch einen Lippenstift zutage gefördert hatte. Seitdem gibt es die zwei Yasminas: Morgens und abends Yasmina, die folgsame algerische Tochter, und tagsüber Yasmina, den selbstbewußten Pariser Teenager.

Ähnlich wie Yasmina geht es heute in Frankreich vielen jungen Algerierinnen, Marokkanerinnen und Tunesierinnen der sogenannten „zweiten Generation“. Aufgewachsen in einem Land mit laizistischer Schule, fünf Fernsehprogrammen und Werbeplakaten an jeder Ecke, aber erzogen von Eltern, die meist noch aus einer islamisch geprägten Bauerngesellschaft stammen, werden sie täglich mit zwei Frauenbildern konfrontiert, wie sie gegensätzlicher kaum denkbar sind. Hier die „junge Frau von heute“, die sich schminkt, schicke Kleider trägt und ihr Leben selbst in die Hand nimmt, dort die „Ehefrau und Mutter“, die zu ihrem Mann aufschaut, sich voll und ganz der Familie widmet und in der Öffentlichkeit stets bescheiden im Hintergrund bleibt.

Fast immer sind es die Väter, die das konservativ islamische Frauenbild am vehementesten verfechten. Die Erklärung dafür ist jedoch nicht nur in einem tiefverwurzelten patriarchalen Denken zu suchen. Fatma, eine junge Sozialarbeiterin und ebenfalls Algerierin der „zweiten Generation“, sieht die Sache differenzierter: „Die meisten nordafrikanischen Männer spielen ja hier in Frankreich sowohl im Beruf als auch im öffentlichen Leben eine völlig untergeordnete Rolle. Ihre Ehefrauen sind durch die beengten Wohnverhältnisse und die ständige Arbeitsüberlastung häufig so zermürbt, daß sie sich schon längst in eine Art 'innerer Emigration‘ zurückgezogen haben, und die Söhne lassen sich ab einem bestimmten Alter ohnehin kaum mehr Zuhause blicken. Da bleibt dann in der Tat nur die Erziehung der Mädchen als letzter Bereich, in dem diese Männer noch etwas zu sagen haben. Daß sie sich dabei so sehr an den islamischen Werten festklammern - beziehungsweise an dem, was sie dafür halten

-, hängt freilich in der Regel weniger mit einer tief empfundenen Religiosität zusammen als vielmehr mit dem Versuch, nach all den Jahren der Emigration wenigstens einen kleinen Teil der eigenen kulturellen Identität zu retten. Viele Väter glauben auch, durchaus im Interesse ihrer Töchter zu handeln, wenn sie sie 'anständig‘ erziehen und ihnen die überlieferten Werte vermitteln. Daß sie sich dabei mitunter recht widersprüchlich verhalten, ist ihnen indes nicht bewußt. So kann es vorkommen, daß ein Vater stolz auf die Schulerfolge seiner Tochter ist und sie auf das Gymnasium schickt, aber nicht einsehen will, daß sie nach dem Abitur studieren und ein eigenständiges Leben führen will.“ Yasminas Situation ist da noch vergleichsweise erträglich. Nicht nur, daß ihre Mutter von ihrem Doppelleben weiß und ihr heimlich immer wieder Geld zusteckt, auch ihr ältester Bruder unterstützt sie, indem er sie ab und an ins Kino „begleitet“ und dann mit ihrer Freundin für ein paar Stunden allein über die Boulevards bummeln läßt.

Andere Mädchen haben es schwerer. Von den Müttern können sie zumeist keine Hilfe erwarten - die haben entweder Angst vor dem Ehemann oder sind sogar auf die Emanzipationsversuche der Tochter bewußt neidisch -, und die Brüder, die selber alle Freiheiten haben und sich Zuhause wie die Paschas bedienen lassen, sind nicht selten noch rigider als die Väter. Für diese Mädchen ist das Familienleben Tag für Tag ein ermüdender Kleinkrieg um jede freie Minute außerhalb des Hauses, um jeden Zentimeter Rocklänge, um jeden Hauch Lidschatten und selbst um jedes unkontrollierte Telefongespräch. Hinzu kommt bei vielen die Angst vor einer „arrangierten“ Ehe. Immerhin sind 45 Prozent der in Frankreich lebenden jungen Frauen zwischen 15 und 19 Jahren bereits verheiratet, häufig mit einem Mann, der um einiges älter ist und den sie vor der Hochzeit praktisch nie gesehen haben. Wenn die Ehe dann auch noch auf traditionelle Weise „vollzogen“ werden soll - also mit der wartenden Verwandtschaft im Nebenzimmer und anschließender Präsentation des blutbefleckten Lakens - kann man sich leicht vorstellen, mit welchen Gefühlen eine solche junge Frau dem „schönsten Tag ihres Lebens“ entgegensieht.

„Am schlimmsten ist es allerdings“, meint Fatma, „wenn ein Mädchen nach 'Hause‘ geschickt und dort verheiratet wird.“ Die meisten erleben das als einen völligen Schock: Eine Sprache, die sie kaum verstehen, Menschen, die ihnen fremd sind, und eine Kultur, die sie allenfalls von einigen kurzen Ferienaufenthalten kennen. Hinzu kommt, daß es dort inzwischen auch schon Anfänge einer Fremdenfeindlichkeit mit umgekehrtem Vorzeichen gibt. So kann es einer jungen Franko -Algerierin oder -Marokkanerin, die in die „Heimat“ zurückgekehrt ist, ohne weiteres passieren, daß man sie hinter ihrem Rücken als „Eindringling“ oder gar als „Franzosen-Hure“ beschimpft.

Viele halten dem ständigen Druck, unter dem sie leben, nicht stand und resignieren, verlieren das Interesse an ihrer Umwelt. Andere dagegen versuchen die Flucht nach vorn, egal wohin, egal um welchen Preis. Etwa in eine überstürzte Ehe mit einem Mann, dessen einziger Vorzug darin besteht, daß er nicht von den Eltern ausgesucht wurde. Oder in den religiösen Fundamentalismus, dessen religiöses Zwangskorsett in Kauf genommen wird, weil es wenigstens die Gelgenheit bietet, an zwei Abenden in der Woche ohne familiäre Begleitung einen Koran-Kurs besuchen zu können (und weil er zudem das erhebende Gefühl vermittelt, Väter und Brüder in puncto „islamischer Rechtgläubigkeit“ jetzt übertroffen zu haben). Wieder andere flüchten im wahrsten Sinne des Wortes und laufen von Zuhause weg. Freilich in der Regel mit dem Ergebnis, daß sie einige Tage später wieder vor der elterlichen Wohnung stehen. Erstaunen kann das nicht, ist es in Frankreich für eine junge Ausländerin ohne Geld und Berufsausbildung doch praktisch unmöglich, sich auf halbwegs erträgliche Weise allein durchzuschlagen, zumal es eine „Szene“, in deren Wohngemeinschaften man zumindest vorübergehend Unterschlupf finden könnte, so gut wie gar nicht gibt. Dazu kommen die Gewissensbisse, die sich bei vielen bald einstellen, weil sie glauben, der Familie „Schande“ gemacht zu haben.

Letztlich also eine Situation ohne Ausweg für die jungen Frauen der „zweiten Generation“? Ganz so pessimistisch sieht Fatma die Situation nicht: „Es gibt inzwischen eine wachsende Zahl von Mädchen, die aus ihrer an sich bedrückenden Lage doch einen gewissen Nutzen gezogen hat. Denn dadurch, daß sie sich ihre Freiheiten mit Zähigkeit Stück für Stück erkämpfen mußten, haben sie nämlich gelernt, sich auch unter schwierigen Bedingungen durchzusetzen. Und sie haben es verstanden, den Freiraum zu nutzen, den ihnen die Schule bietet.“

In der Tat fällt auf, daß die jungen Norafrikanerinnen nicht nur oft in der Schule die besten Noten bekommen, sondern auch, daß sie in den Ausländerinitiativen wie etwa „SOS Racisme“ zu den AktivstInnen gehören. Und als im Dezember 1986 Hunderttausende von Gymnasiasten und Studenten auf die Straße gingen, um gegen die geplante Universitätsreform zu protestieren, waren es ebenfalls sie, die überall in den ersten Reihen mitmarschierten.