Lesen mit den Ohren

■ Rezension des Romans „Eingeschlossen“ von Francois Bon, dessen Namen wir peinlicherweise nicht in der welschen Fassung drucken können, da unsere Computer nicht über ein „ce cedille“ verfügen

Akustische Bilder, die im Gedächtnis zurückbleiben. Das Bellen der Hunde in den Zwingern, das Tosen des Atlantik, der Wind, das endlose Schweigen der Louise. Diese und andere Bilder: „Das Rumoren des Gefängnisses“, „das Rascheln von mehr als achthundert Männern“, „das Klappern von Eisen auf Eisen“, das Rauschen der Radios in den Zellen...

Das dritte Buch des Francois Bon, das seit dem letzten Herbst unter dem Titel „Eingeschlossen“ in deutscher Sprache vorliegt, läßt sich vielleicht am ehesten mit dem Gehör lesen.

Vier Stimmen erinnern sich darin abwechselnd - rauh, zurückhaltend, jede für sich. Erzählen von Landschaften: Ein Dorf in der Vendee, Paris, Berlin im Krieg, ein Gefängnis... Erzählen von der Kehrseite der Schlagzeilen - aus der Sicht der Opfer und Täter: Armut und Arbeitslosigkeit, Vergewaltigung, Alkoholismus, Mord. Vier dunkle Figuren

-Buzon, die Mutter, Raulx und Brocq - , die das dröhnende Gewirr der Biografien ordnen, die Geräusche der Gewalt in ihren Köpfen.

„Das Pech trifft die Pechvögel“, meint die Mutter. Und Pech klebt an allen vieren wie eine Haut, schließt sie ein. Weiter werden sie nicht kommen. Wo immer sie gehen, ist das Ende der Welt.

Buzon und Raulx sind aus dem Gefängnis entlassen und besuchen die Mutter von Buzon in der Vendee, wo sie mit der behinderten Tochter Louise lebt und Wachhunde züchtet. Drei Tage - die eigentliche Zeit des Romans - bleiben die jungen Männer dort. Sie schlafen, essen, treffen sich mit Brocq, dem weisen Trödler, der ein geheimnisumwittertes Buch besitzt.

Sie gehen spazieren - Pfützen und Wolken darin, Wind, Schlamm und Winterlicht, kahle Hügel und Wege am Meer. Weit weg. Schutz aber vor dem inneren

Lärm finden sie da nicht. Wo Gewalt von Anfang an ist, ist das Gedächtnis laut, und der Lärm hört nicht auf. Es heißt: immerwährende Gegenwart der Vergangenheit.

Wie ein Schmutzfleck an der Wand, ein bleibender Schatten. Wie Louises dumpfer Körper, der still und unwiderlegbar die frühen Mißhandlungen sagt. Das Verbrechen von Buzon und Raulx kommt von weit her und wird sie stets begleiten. Eingeschlossen waren sie schon immer. Bellende Hunde.

Von einer durchdringenden Präsenz ist die düstere hermetische Welt der vier Protagonisten, die Bon in der Nähe von Cervantes und Celines Visionen ansiedelt. Auszüge aus „Don Quichotte“ und aus Texten über Konzentrationslager, das rätselhafte Auftauchen eines Doktors in den Kriegserinnerungen von Brocq brechen die realistischen Erzählebenen, verleihen den Figuren eine Tragik, die sie weit über de

ren individuelle Schicksale hinaus an den Verbrechen und Illusionen der Menschheit teilhaben läßt.

Buzon, Raulx, Brocq, die Mutter, sie alle sprechen. Und legen doch nur eins bloß: den unsagbaren Kern ihres Unglücks. „Denn wer weiß schon, was die Menschen verdirbt. Die Sprache rückt an Grenzen: Das Ende der Welt, wo sie spricht. Der Kern, vor dem sie schweigt - und vielleicht auch schweigen will.

Schon in den beiden ersten Büchern befaßte sich Francois Bon mit den Lebensgeschichten von Benachteiligten der Gesellschaft; schon da waren die Orte geschlossen, als gäbe es kein Außen mehr. Wies aber zum Beispiel der Roman „Limite“, dessen deutsche Ausgabe 1986 unter dem gleichnamigen Titel erschien, einen experimentellen Charakter auf, sah man ihm allzusehr den Kampf mit der inszenierten Realität „Fabrik“ und die Arbeit an der Sprache an (die ja teilweise zur Arbeit

der Lesenden wurde), zeugt hingegen „Eingeschlossen“ von sprachlicher Souveränität. Der Gegenstand bedeutet hier nicht mehr nur ein Hindernis.

Deutlich sind die vier Stimmen zu vernehmen. Sie setzen sich durch, ohne sperrig zu werden, lassen sich Zeit. 1986 wurde „Eingeschlossen“ mit dem Prix Passion (dem französischen Literaturpreis der Buchhändler) ausgezeichnet. Bons Talent ist reifer geworden. Ein Gewinn, von dem das eingespielte Übersetzungsteam Baumann-Lerch profitiert hat.

Sonia Nowoselsky-Müller

„Limit“ von Francois Bon, Manholt Verlag, Bremen 1986, Originalausgabe „Limite“, Les Editions de Minuit, Paris 1985.

„Eingeschlossen“ von Francois Bon, Manholt Verlag Bremen, 1988. Aus dem Französischen von Christiane Baumann und Gisela Lerch. Originalausgabe „Le crime de Buzon“, Les Editions de Minuit, Paris 1986