ZÄHNE AUF EISEN

Sylvia Juncosa im Ecstasy  ■  I.

Die meterlange Schlange hinter sich gebracht, geschockt von den Massen, die sich drängen, trifft man tausend Leute. Über den Videoschirm flimmert Hendrix, könnte live in Berkeley sein - 68. Es gibt Gitarristen, jede Menge gute, schlechte, durchschnittliche, überdurchschnittliche und vor allem zum Kotzen langweilig durchschnittliche. Ein paar wenige gibt es auch, für die ist ihr Instrument kein Stück Holz mit aufgespannten Saiten, sondern Teil ihres Körpers, vielleicht sogar Teil ihrer Seele, im besten Fall Teil ihres Geschlechts. Hendrix war einer davon: Sowenig ich den Großteil seiner Musik, das Gewichse ertragen kann, so sehr liebe ich die Art, wie er seine Gitarre behandelt, nicht wie ein Instrument, sondern wie eine Geliebte (ja, ich weiß, uralter Vergleich) oder den eigenen Schwanz oder ganz einfach als etwas, das so logisch und direkt funktioniert wie die eigenen Stimmbänder, um sich mitzuteilen. II.

Als ich Sylvia Juncosa vor drei Wochen das erste Mal in Nürnberg sah, fragte mich im Klo vor der Pißbox stehend mein Nebenmann plötzlich unvermittelt, was Sylvia Juncosa und ihre Band so viel besser macht als die Fürther Vorgruppe, die nicht mal so schlechten Garagenrock spielte. Völlig überrascht, ohne Nachdenken, antwortete ich: „Das ist der Unterschied zwischen Oberschülern und Süchtigen.“ III.

Die Bassistin ist die typische Kifferbraut mit dem Indianerstirnband und den großen, aufgerissenen braunen Augen, die den Baßhals manchmal fixieren, als wollte sie ihre Finger hypnotisieren oder als würde sie sich wundern, daß sie nach all dem Dope noch in der Lage ist, ihr Instrument in der richtigen Geschwindigkeit zu bedienen. Der Schlagzeuger ist einer von den Zappelphilipps, fehlt nur der Schlabberlatz zum geschmacklosen Vollbart -Versicherungsvertreter-Outfit. Einer von denen, die nie stillsitzen konnten. Hat er mal nicht viel zu tun, steht er auf und läuft um sein Drumkit herum. Manchmal beißt er auch aus lauter Übermut in die Becken (und das ist kein abgedrehter Vergleich. Das ist wahr, Mann, Zähne auf Eisen). IV.

Der durchgeschwitzte und vor der Bühne plötzlich auftauchende Votograf Owsnitzki wirft mir „Das ist ja völlig alte Musik“ entgegen. Ich habe nie etwas anderes behauptet, als ich ihn lockte, diesen Brutkessel zu betreten. Und was kann ich dafür, daß er von mir überrascht und so viel älter ist? V.

Wofür ist Musik da, wenn sie nicht Bilder malt im Kopf? Sylvia Juncosa malt naive Kinderbildchen auf ihr Plattencover, mit Natur und rosa Elefanten und allem, was das Herz begehrt, paradiesische Zustände. Und so gehen ihre Liebeslieder, zart naive Balladen ans Herz auf die ganz altmodische Art und Weise, ein Pathos schwülstig vertröpfelnd, das nie peinlich werden kann, weil viel zu ehrlich gemeint.

Aber ein Mensch besteht nicht nur aus Liebe und Harmonie und Die-Welt-kann-so-schön-sein-Gefühlen. Und Musik ist so wie die Menschen, die sie machen (platt wie wahr), und also muß Musik auch explodieren hart an der Schmerzgrenze, gejagt von den bösen Wölfen des Hasses, der Eifersucht, der Depression, der Wut (um nur einiges aufzuzählen). Sylvia Juncosa besetzt eine der letzten Bastionen der Männer, weit jenseits der 'Bangles‘, geht mit ihren Gefühlen so offensiv selbstdarstellend und penetrant narzistisch um, wie das sonst nur Männer dürfen. „Lick my pussy, Eddie Van Halen“. Die Gitarre als umgedrehter Phallus. VI.

Es ist viel zu voll, um sich zu konzentrieren, die Augen zu schließen, jeden feingewebten Ton, jedes kurze Aufkreischen der Gitarre, jedes ironische Lächeln des Gesangs richtig zu hören. Zu beschäftigt ist man damit, Zigaretten nicht in fremde Gesäße zu drücken und lange, schwitzige Zotteln ins eigene Gesicht zu bekommen. Vor drei Wochen in Nürnberg war genug Platz, die Arme vorm Körper zu verschränken, mit dem Rhythmus zu wippen, den Kopf von vorne nach hinten zu werfen und jeden Ton aufzusaugen, zu genießen, langsam niedersinken zu lassen, bei den Flagolettönen das Kribbeln zu spüren. VII.

Sylvia Juncosa über die Gitarre gebeugt, die langen blonden Haare vorm Gesicht, beugt sich der Trommler nach vorne, über sein Schlagzeug hinweg und klopft ihr zärtlich mit dem Stock auf den Kopf. VIII.

Viel zu schnell ist alles zu Ende und viel zu schnell drängt alles nach draußen, ohne für noch eine Zugabe mehr zu brüllen, kurz vor dem Kollaps. Jemand wie Sylvia Juncosa und ihre Band haben Besseres als das apathische Berliner Publikum verdient. (Hey Mann, geh doch nach Nürnberg... die k.) Gebt die Macht den Süchtigen (egal was, Drogen, Gummibärchen oder Rock'n'Roll) and it's gonna be a better world for you and me.

Thomas Winkler