AUSGESTOPFTE FÜCHSE?

■ Denkmaltopographie im Ortsteil Reinickendorf

Reinickendorf hat's immer schwer gehabt: erst matschiger Dorfanger auf sandigem Gelände, später rußiger Industriestandort für billiges Geld und endlich dröge Schlafgroßsiedlung unter der Einflugschneise. Wer will da schon hin.

Seit nun der Landeskonservator einen denkmalschützenden Blick auf den Bezirk riskierte, schimmert die graue Vorstadt wie ein ungeschliffener Juwel, wenn auch nur in hochglanzpolierter Buchform. Wohl in Affinität zu überfliegenden Düsenjets erklärt der Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz Reinickendorf zum Pilotprojekt für ein Konzept der Denkmalpflege, das „die analytische Charakterisierung der Denkmale und Denkmalensembles in ihrem räumlichen Zusammenhang“ verfolgt. Im Fachjargon heißt das Denkmaltopographie und bedeutet im Klartext, daß ein geographischer Ort zur Rasterfahndung ausgeschrieben wird. Jeder Stein und Grashalm wird umgedreht, notiert, registriert, inventarisiert und ins Verhältnis zu anderen gebracht. Es bleibt die gutachterliche Empfehlung, denkmalwürdige Einzelobjekte und städtebauliche Gesamtanlagen unter Schutz zu stellen, um sie vor Verfall und Abriß zu sichern.

Für den Ortsteil Reinickendorf erschien jetzt der erste denkmaltopographische Band in der Reihe Baudenkmale in Berlin. Er führt analog zur Entwicklung des Ortes noch vorhandene dörfliche Baureste, Industrieanlagen, Großwohnsiedlungen und Grünflächen vor. Es ist ein dicker Katalog mit vielen Bildern, der sich aber so langweilig liest, wie es Reinickendorf vielleicht selbst ist. Wissenschaftlich steht er teilweise auf der Höhe heimatgeschichtlicher Schriften und pflügt mit unsäglichen Exkursen zur Funktion der Dreifelderwirtschaft wichtigere Themen, etwa die Rolle der Argus Motoren- und Rüstungswerke, unter. Allein die Kapitel über die Großsiedlungen der zwanziger Jahre sowie das gesamte Bildmaterial sind umfangreich.

Regelrecht vertan ist die Chance, ein Buch zu schreiben, das die Denkmaltopographie nicht nur wörtlich nimmt, sondern auf Spurensuche geht, Anregungen zur Nutzung und Restaurierung gibt und Fragen zur dinglichen Vergangenheit stellt. So schläft man über den Seiten zur Stadtchronik fast ein, und die Kapitel zur städtebaulichen Entwicklung und zur Geschichte architektonisch wichtiger Einzelbauten werden zu einem mühevollen Gang. Zwar wird einiges entdeckt, doch bleibt am Ende nur Beliebigkeit, weil ohne methodische Grundlage gleich alles vorgestellt wird, was noch zusammengemörtelt ist. Vom alten Geräteschuppen zum wuchtigen Grabbau, über Straßenbrücken bis zur intakten Fabrik reiht sich aneinander, was Reinickendorf so zu bieten hat. Es bleibt kein Gefühl für Architektur und Stadtlandschaft und auch nicht für die, die darin leben. Die fast polizeiliche Registratur wirkt wie ein totes disparates Sammelsurium aus baulichen Überresten, wie geometrisierte Signifikationen zur Inventarisierung.

Zur Wirkungslosigkeit verurteilt wird Denkmaltopographie dort, wo sie nur feststellen darf, ohne weiterzufragen. So liest man von den Industriebauten Werner Issels in der Flottenstraße (1936-1940), daß sie „nicht völlig frei von der Architektursprache des Dritten Reiches“ seien, anstatt zu erfahren, daß es makellose faschistische Architektur ist, geschweige denn, wer da hineingepreßt wurde. Liest man, daß in Reinickendorfs „Weißer Stadt“, der städtebaulich und sozialgeschichtlich interessantesten Großwohnsiedlung, auf Grünzügen noch ein paar alte denkmalwürdige Sitzbänke aus den zwanziger Jahren stehen, die aber wegen des lärmenden Verkehrs, der um sie herumbraust, niemand nutzen kann. Müssen die Anwohner nun zum Sitzen ins Museum? Reinickendorf hat's schwer, denn Denkmaljäger sind unterwegs. Die Füchse müssen selber was machen!

rola

Der Katalog Baudenkmale in Berlin. Ortsteil Reinickendorf erscheint als Sonderdruck der Ausstellung „Verloren, gefährdet, geschützt - Baudenkmal in Berlin“ und kostet 38 Mark.