MÜRBER STOFF DER VERGANGENHEIT

■ Besuch einer Textilfabrik - Relikt englischer Industriegeschichte

Unaufdringlich ist dieses Land. Die grünen Hügel rollen sanft von der Grafschaft Devon ins angrenzende Somerset, zusammengehalten von einem Netz kniehoher Mauern aus grauem Naturstein. Menschen trifft man hier selten, nur Schafe äugen gleichgültig herüber. Die Gegend lädt dazu ein, sich treiben zu lassen, ziellos nur den schmalen Wegen zu folgen, die sich durchs Land winden, rechts und links mit Erdwällen und Hecken aufgeworfen, so daß hinter jeder Kurve eine unvorhergesehene Begegnung warten kann. Ein umgestürzter Baum etwa, eine erstaunt glotzende Kuh oder wie an diesem Morgen: unerwartet eine offene Wiese, darauf eine alte Backsteinfabrik.

Nachdem ich das Gebäude einmal prüfend umrundet habe, wage ich es, durch die angelehnte Tür einzutreten. Ich gelange in den Vorraum mit einer imposanten Telefonzentrale, die eine der ersten ihrer Art gewesen sein muß und noch mit Steckstöpseln und Kopfhörern funktioniert. Alte Fotografien hängen an den Wänden, aber niemand ist zu sehen. Nur das Ticken der Wanduhr verrät die Anwesenheit von Menschen. Ich gehe ein paar Schritte den Gang hinab und gelange zum Kontor mit den typischen hölzernen Stehschreibpulten. Dort ist ein Klingelknopf aus blankem Messing in die Wand eingelassen mit der Aufschrift „Auskunft“. Ich drücke und erschrecke über das laute Schnarren, das die bisherige Stille durchbricht. Tatsächlich erscheint nach einer Weile ein älterer Herr mit buschigen weißen Koteletten, der mich über den Rand seiner schmalen randlosen Brille hinweg erstaunt ansieht. Unwillkürlich fürchte ich, daß ich ihn aus einer siebzigjährigen Mittagspause aufgeschreckt habe. Als ich ihm (und mir) unbeholfen zu erklären versuche, warum ich hier stehe, zeigt er sich erstaunlich verständnisvoll. Ein Ausländer, der sich in einem Anfall industriearchäologischer Schnüffelsucht in diese vergessene Fabrik verirrt hat, erregt seine Milde und Sympathie. Eigentlich ist er an diesem Samstag nachmittag hierher gekommen, um liegengebliebene Arbeit zu erledigen, doch jetzt führt er mich durch das Werk.

Mr.Hine - so heißt der freundliche Gentleman - klärt mich auf, daß ich mich in der Fabrik der traditionsreichen Fox Brothers befinde. Und er führt mich direkt in das Allerheiligste: den board-room, einen großen holzvertäfelten Sitzungssaal. An den Wänden Gemälde der Vorfahren, in den Ecken Reliquien aus der Firmengeschichte. Über dem großen Tisch und den abgesessenen schweren Ledersesseln liegt eine müde Stille, und doch gingen von hier aus einst Nachrichten und Waren in die großen Städte der bekannten Welt. Mächtige Schränke reichen bis an die Decke, und in ihren Fächern ruhen alte Dokumente und Akten, Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Mr.Hine holt sie hervor und läßt sie erzählen. Begonnen habe es vor nahezu dreihundert Jahren mit einer Familie von einfachen Tuchmachern.

Transport und Reise waren in jenen Tagen ein beschwerliches Unterfangen. Die Straßen waren unbefestigte Feldwege, oft nur als Fahrspur erkennbar und häufig durch Regen unpassierbar. Zudem lauerten Straßenräuber, die berüchtigten „highwaymen“, nur allzuoft den vereinzelten Reisenden auf. Aus dieser Zeit stammt wohl auch der alte, aber funktionsfähige und gut geölte Revolver, der mir inmitten der Akten in die Hände gerät. Die Pferdekutschen benötigten fünf Tage, um nach London zu fahren (heute ist man mit dem Auto in drei Stunden dort). Aus all diesen Gründen wurden die Wasserwege bevorzugt. Die Stoffballen wurden auf sechsspännige Planwagen die 25 Meilen zum Hafen Topsham gebracht, und von dort aus segelten die Schiffe an der Südküste entlang nach London oder später in die ganze Welt.

Der Sturmwind der industriellen Revolution erfaßte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts auch diese Manufaktur im ländlichen Südwesten Englands. Maschinen, die erst von Pferden, dann mit Dampf angetrieben wurden, ersetzten nach und nach die Handarbeit der Krämer, Wäscher, Spinner und Weber, die bis dahin noch teilweise in ihren eigenen Hütten gearbeitet hatten. Größere Fabriken wurden gebaut und die technischen Erfindungen umgehend in die Produktion eingefügt. Bereits 1840 wurde eine 15 PS starke Dampfmaschine des berühmten James Watt installiert und zehn Jahre später das innovative „High-Tech“ einer „atmosphärischen oszillierenden Maschine“. Vier Maschinen dieses Typs wurden weltweit gebaut, eine fand ihren Weg hierher. Ebenso umwälzend war die Errichtung der Eisenbahnlinien, die die Kutschen und den Transport auf Kanälen verdrängten. Die Eisenbahn transportierte die Neue Zeit - der Warenverkehr vergrößerte und beschleunigte sich rapide, Märkte eröffneten sich und wurden verknüpft, mit Volldampf ging es voraus in Fortschritt und Wohlstand.

Nicht für alle. Viele wurden von der Wucht des Zuges überrollt. Kleine Pächter verloren ihre Höfe, Handwerker konnten mit industrieller Fertigung nicht konkurrieren und wurden arbeitslos. Wurzellos geworden, wurden sie alle in das Sammelbecken der neu entstandenen Industriearbeiterschaft gespült. Die vorindustriellen Verhältnisse waren bescheiden und ärmlich gewesen, die Fabrikarbeit brachte in guten Zeiten eine Hebung des Einkommens und relativen Wohlstand. Jede wirtschaftliche Flaute oder Krise aber stürzte die gänzlich abhängig gewordene Arbeiterschaft in bittere Armut und Elend. Blättert man in einem der staubigen Lederbände aus Mr.Hines Bücherschrank, so werden dort knapp, doch eindringlich die Schicksale einzelner Familien der Ortschaft geschildert.

Selbst vierjährige Kinder mußten bei harter Arbeit in Fabriken und Bergwerken ihre Gesundheit und Kindheit opfern, um das tägliche Brot herbeizuschaffen. Daran mangelte es bitter, wie das Buch verrät. Wenn man sich die Zeit nimmt und über die oft abgelegenen und verwilderten Friedhöfe englischer Dörfer schlendert, so sprechen die Grabsteine aus dieser Zeit Bände über die ungeheure Kindersterblichkeit jener Tage.

Den Zweiten Weltkrieg überstanden die Werke unbeschadet, doch es war eine stürmische Zeit, wie sich George, der Pförtner, erinnert. Schulkinder wurden aus den Großstädten evakuiert und aufs Land verschickt, um sie vor den Bomberschwärmen der deutschen Luftwaffe zu schützen. „Über zweihundert Kinder haben wir damals für ein paar Nächte in den Werkhallen untergebracht. Tonnen weißer Wolle wurden auf den Boden geschüttet, Leintücher drüber gelegt, und die Kids haben sich dann in Tuchbahnen statt in Decken gewickelt. Satt gekriegt haben wir sie alle“, schmunzelt er.

Der Krieg wurde gewonnen, doch der Friede verloren, zumindest auf wirtschaftlichem Gebiet. Für die Brüder Fox galt Ähnliches wie für die gesamte britische Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Verlust der Kolonien mit ihren billigen Rohstoffen und Arbeitskräften und die unbeschädigten, doch veralteten Industrieanlagen ließen plötzlich drastisch deutlich werden, daß das ehemalige Empire, die größte Handelsmacht der Welt, den Anschluß verloren hatte. Ein Gang durch die Werkshallen führt das deutlich vor Augen. Viele stehen leer, das Inventar ist im Raum verstreut. Die Maschinen, an denen die Männer arbeiten, entwickeln einen Höllenlärm, eine Menge Staub und sind völlig veraltet. Einige sind tatsächlich direkt aus der Fabrik in das nahe gelegene Industriemuseum geholt worden.

Dieses Museum steht nur zehn Meilen entfernt in dem kleinen Ort Uffculme. Ehemals eine Wollspinnerei, ist „Coldharbour Mill“ heute eines der in England so beliebten „working museums“. Die alten Werkzeuge und Maschinen werden mehrmals täglich in Bewegung gesetzt, und der Besucher kann hautnah erleben, wie aus frisch geschorener Wolle schrittweise das fertige Tuch entsteht. Besonders die Kinder, aber auch mancher Erwachsene lauscht staunend und gefesselt den Erklärungen der Maschinisten. Sie haben bis vor 20 Jahren an genau diesen Maschinen produziert und wurden bei der Umwandlung in ein Museum direkt als „lebendes Inventar“ übernommen.

Viele Relikte der Industriegeschichte lassen sich so entdecken, unfreiwillig museal ist auch die einsame Fabrik mit dem freundlichen alten Herrn.

Wie vor sechzig Jahren wird hier produziert, doch die Produktpalette hat sich auf einige wenige Muster reduziert. Der harten Konkurrenz der Billigländer konnte man nur entgehen, indem man auf Stoffe höchster Qualität auswich. Und darauf legt Mr.Hine immer wieder großes Gewicht. Er wird nicht müde, mir und sich zu versichern, daß noch immer, wie einst, beste britische Qualität das alte Haus verläßt und seinen Weg in weite Länder nimmt. Doch die verfallenden Gebäude, an denen der Efeu hochwächst, lassen eher an ein Märchenschloß denken, in dem Dornröschen zu alt und müde geworden ist, um noch einmal aufzuwachen.

Mr.Hine aber lebt weiterhin nach dem Leitspruch des Firmenwappens: „Faire sans Dire“, oder wie er mir übersetzt: Nicht viele Worte machen, sondern den Job tun.

Martin Glauert