Glocken und Gebete gegen Tiefflieger

■ Zwei Tage nach dem Zusammenstoß zweier Militärflugzeuge sitzt den Wiesmoorern der Schock immer noch in den Knochen / Pastor predigte vor laufenden Fernsehkameras und in rappelvoller Dorfkirche

Punkt 9.52 Uhr beginnen in Wiesmoor-Hinrichsfehn die Kirchenglocken zu läuten. Nicht nur weil Sonntag ist. Hier werden die Glocken bis auf weiteres täglich um 9.52 Uhr eine halbe Stunde läuten, seit am Freitag Punkt 9.52 ein Tornado der Royal Air Force und ein Alpha-Jet der Bundeswehr über dem kleinen Kirchlein im Tiefflug ineinanderrasten.

Auch zwei Tage nach dem Unglück, bei dem zwei Piloten ums

Leben kamen und ein dritter schwer verletzt wurde, herrscht in dem 850-Seelen-Dorf mit den Reißbrett-Straßen noch der militärische Belagerungszustand: Die Wohnstraßen mit den blumigen Namen Rhododendron-, Flieder-oder Azaleenstraße wer in Deutschland schon vor der Flugzeugkatastrophe mal etwas von Wiesmoor gehört hatte, wußte allenfalls von seinen vielen Gärtnereien und Baumschulen - sind

von britischen und bundesdeut schen Soldaten abgeriegelt. Selbst Anwohner dürfen nur nach Vorlage ihres Personalausweises passieren. Autofahrer müssen in der Regel ihren Kofferraum inspizieren lassen. Gegenüber Journalisten gilt der Befehl „Fotografieren strikt unterbinden“ und „keinesfalls in die Nähe der Absturzstelle gelangen lassen“.

Direkt hinter dem Garten des örtlichen Heizungsunternehmens Jürgens haben Bundeswehr-Soldaten zwei Zelte in den morastigen Wiesen aufgeschlagen, einen Steinwurf entfernt kampieren britische Wachmannschaften. 50 Meter weiter liegt immer noch das Wrack des abgestürzten Tornado, schwarz und rücklings, so daß das ausgefahrene Fahrwerk weit sichtbar in die Luft ragt. Die Hecke kurz hinter dem Garten der Jürgens zeigt seit Freiag eine große Lücke. Hier ist der Tornado das erste Mal aufgeschlagen, dann brennend durch die Büsche geschliddert, ehe er 150 Meter weiter endgültig liegen blieb und ausbrannte. Familie Jürgens saß gerade am Frühstückstisch. Zwei Tage danach sitzt ihnen der Schock immer noch in den Knochen: „Wir haben mehr Glück als Verstand gehabt. Bruchteile von Sekunden früher,

und das Flugzeug wäre direkt in die Häuser gerast. Wir können unserem Herrgott nur danken, daß wir noch am Leben sind.“

An diesem Sonntag waren die Jürgens das erste Mal seit Weihnachten wieder in der Kirche. Tochter Christel hat drei Mark von ihrem Taschengeld in den Klingelbeutel geworfen.

Überhaupt ist die moderne Kirche mit den gewagten Glasmosaiken, die man zwischen den geputzten Rotstein -Einfamilienhäuschen und den pingelig kurzgestutzten Rasenvorgärtchen kaum vermuten möchte, an diesem Sonntag rappelvoll. In der Lokalzeitung hatte Pastor Buchhagen angekündigt, daß es an diesem Sonntag „keinen normalen Gottesdienst“ geben werde. Der Artikel hängt ausgeschnitten im Glaskasten für „kirchliche Mitteilungen“, ergänzt um zwei weitere Terminhinweise. Der eine kündigt für den Nachmittag eine Protestdemonstration am Militärflughafen Wittmund an. Der andere ruft zu einer „Bürgerversammlung“ im Gemeindesaal auf, wo „gemeinsam überlegt werden soll, was wir als betroffene Bürger nun tun können“. Auf beiden Veranstaltungen weist der Pastor auch wähernd seines nicht „ganz normalen“ Gottesdienstes

noch einmal hin.

Nicht „ganz normal“ ist an diesem Gottesdienst z.B., daß er vor laufenden Fernseh-Kameras stattfindet. Nicht ganz normal ist auch, daß Pfarrersfrau und Lehrerin Erika Buchhagen - am Tag des Unglücks unterrichtete sie ein paar Schritte von der Kirche entfernt gerade die zweite Klasse in der Grundschule des Dörfchens - noch schnell Stangenweißbrot für das Abendmahl besorgen muß, so viele sind gekommen. Nur der Kommodore des Jagdgeschwaders 43, dem der abgstürzte Alpha -Jet angehörte, hat sich telefonisch entschuldigen lassen. Durch den Pastor läßt er die Gemeinde bitten, ihren „verständlichen Zorn nicht an den bei Wiesmoor stationierten Soldaten abzureagieren.“

Pastor Buchhagen predigt gegen die „Verharmloser“ und „Herunterspieler“, die sich selbst und andere damit trösten, daß ja nichts passiert sei: „Es ist nicht nichts passiert. Mir haben Menschen von diesem schlimmsten Schock ihres Lebens berichtet, wie erwachsene Männer nur noch weinend daliegen konnten, wie sich das nur mit Erfahrungen aus dem Krieg vergleichen ließ.“ Aber der Pastor spricht auch sich selbst nicht von Schuld frei:

„Warum sind wir nicht schon früher aufgeschreckt worden?“ Für sich selbst hat er eine Konsequenz gezogen: „Uns mit aller Kraft für die Liebe einzusetzen, das heißt für mich heute zuerst einmal alles in meiner Möglichkeit Stehende zu tun gegen Tiefflüge über bewohnten Gebieten.“

Pastor Buchhagen ist an diesem Sonntag nicht der einzige, der in der Kirche spricht. Zu Wort kommen auch zwei AnwohnerInnen. Eine wohnt seit dem Unglück in einem kaputten Haus: Durch die Druckwelle sind die Fenster gesplittert. Jetzt bittet sie die Geminde, „gemeinsam dafür zu kämpfen, daß wir nie wieder in Friedenszeiten erleben müssen, was unsere Eltern im Krieg erleben mußten“.

Das hofft auch Hinrich Behrends, der den Krieg noch erlebt und ein Bein verloren hat. Seit 21 Jahren ist Behrends Bürgermeister in Wiesmoor und hat sich „schon immer über die Tieffliegerei aufgeregt“. Eins allerdings hat ihn fast noch mehr aufgeregt, verrät er später: Daß die Bürger sich so wenig über die Tiefflieger aufgeregt haben - obwohl in der Schule ständig der Unterricht unterbrochen werden mußte, obwohl man nicht mal einen Mittagsschlaf halten konnte, weil zwischen eins und drei „bevorzugte“ Tiefflugzeit ist, obwohl die Tiere sich jedesmal flach auf den Boden warfen, wenn die Düsenjets über die Hinrichsfehner Dächer donnerten und obwohl man in dem kleinen Dorf nicht mal „anständig unter die Erde kam“, weil der Pastor wegen des Fluglärms ständig die Grabrede unterbrechen mußte.

Am Schluß des Gottesdienstes packt Pastor Buchhagen die Gitarre aus. Nach „Nun danket alle Gott“ und „Ach bleib mit Deiner Gnade“ soll die Gemeinde ein neues Lied lernen: „Einsam bist du klein, aber gemeinsam werden wir Anwalt des Lebendigen sein.“ Das Ergebnis fällt noch ein bißchen dünn aus. Anschließend kommentiert Pastor Buchhagen: „Also, ich will ja nich lästern, aber wenn unsere Aktionen gegen Tiefflüge was werden sollen, muß unsere Gemeinsamkeit wohl noch etwas besser werden.“

Klaus Schloesser