EIN FESTIVAL DER RELATIVEN VIOLINE

■ Bericht von unserem Korrespondenten Igor Lipinski, 7. Januar 1989, Wogga Wogga, Australien

Ein Tag wie jeder andere in Wogga Wogga zu dieser Jahreszeit - drückend heiß und stickig. Ich bin hier, um einen Mann namens Rosenberg aufzuspüren - als Geiger einst ein großer Name in den Konzertsälen der Welt, der sich jetzt anscheinend zurückgezogen hat in die Stadt seiner Geburt hier in Australien. Warum das Interesse für diesen einstmals großen, jetzt obskuren Musiker? Der Grund ist einfach. Dr. Johannes Rosenberg zeichnete verantwortlich für einige der diabolischsten und perversesten Akte, die im Namen der Musik unternommen wurden. Obwohl dies von den Organisatoren energisch bestritten wird, trägt das Violinfestival, das jetzt in Berlin stattfinden soll, deutlich die Handschrift einer typischen Rosenberg-Intrige.

Nach Monaten weltweiter Forschung in den schäbigeren Gegenden von Ost-Berlin, New York, Hiroschima und Sydney war ich endlich der direkten Begegnung mit dem „Doktor“ nahegekommen. Aber wo war er? Ich wirbelte ein wenig Staub auf, als ich die Hauptstraße herunterschlich. Es war beinahe Mittag, und natürlich war kein Mensch zu sehen. Der Ort sah so aus, als ob sich hier seit den letzten 40 Jahren nichts geändert hätte. Die meisten Blechdächer waren rotbraun vor Rost. Wie in einem Theater feindseliger Unsicherheit starrten sich die kleinen Holzhäuser anzüglich an. Und es war heiß wie in der Hölle.

Dann hörte ich Stimmen, die aus einem zweigeschossigen Gebäude an einer Kreuzung kamen. Unter einem Schild mit der Aufschrift „Grand Hotel“ trat ich ein. Mein erster Eindruck war, daß ich in ein schwarzes Loch getreten war, ich konnte absolut nichts sehen. Meine Augen brauchten beinahe fünf Minuten, um sich vom stechenden Licht draußen auf die Dunkelheit im „The Wogga Grand“ umzustellen.

Das Geräusch eines riesigen Ventilators an der Decke war so laut, daß ich meine Erkundigungen bezüglich Rosenberg geradezu herausschreien mußte. Niemand nahm Notiz, niemand bewegte seinen Kopf auch nur einen Zentimeter aus der „Augen geradeaus„-Position, als ich meine Fragen brüllte. Ich machte kehrt und begann meinen Weg zurück auf die Hauptstraße - da sah ich ihn.

Erst dachte ich, da wäre jemand, der den Rasen mäht, aber ich ließ die Idee sofort fallen. Es gab weit und breit kein Gras hier, kein Regen seit Jahren. Er schob eine Art musikalischen Apparats vor sich her. Wie ich später herausfand, handelte es sich um die Dreihals-Doppelkolben -Violine auf Rädern - natürlich! Wir fixierten uns aus einiger Entfernung mit den Augen und kamen langsam aufeinander zu. Meine Annahme, daß er mich gesehen hatte, stimmte offensichtlich nicht, denn er lief schnurstracks an mir vorbei, Kopf und Körper leicht nach vorne gebeugt unter einem riesigen schwarzen Hut, und ganz in die Musik versunken. Ich drehte um und lief neben dem Meistergeiger her. So gingen wir zusammen vielleicht eine halbe Stunde, ohne etwas zu sagen. Ich hörte der Musik zu. Die Bewegungen des Doppelbogens ließen ein gleichmäßiges Arpeggio erklingen, während Rosenbergs Finger, sowohl der rechten wie der linken Hand, beinahe wie auf einem Klavier, unabhängige harmonische Beziehungen mit einem hohen Maß an tonaler Mehrdeutigkeit hervorbrachten.

Plötzlich brach er sein Schweigen und teilte mit, daß er gerade die Aufführung seines 1941 komponierten Werks mit dem Titel 4 Kilometer 33 Meter vollendet habe. Er bemerkte auch, daß die Besonderheit des hiesigen Straßenbelags einige bemerkenswerte Spicaato-Effekte beim Streichen hervorriefen. Er wies darauf hin, daß wir für eine retrograde, das heißt rücklaufende Aufführung die gesamten 4 Kilometer und 33 Meter noch einmal gehen müßten - aber rückwärts. Zum Glück für mich entschied sich der 68 Jahre alte Doktor an diesem einen Tage dagegen.

Ich erzählte ihm, ich käme von der tageszeitung in Berlin. Ach ja, er könne sich natürlich sehr gut an diese Stadt erinnern. 1956 sei er der erste Australier gewesen, der in die DDR ausgewandert sei - das war nicht besonders beliebt damals. „Die Leute dachten, ich sei verrückt“, sagte er. Ich klärte ihn darüber auf, daß die taz ein Westberliner Blatt sei. Er blickte mich argwöhnisch an. In Ost-Berlin hatte er sein einflußreiches Buch Yehudi Menuhin - ein Knecht des Kapitalismus geschrieben, und ich hatte vor, ihn darüber zu befragen.

Während des Interviews gingen wir langsam weiter. Wogga Wogga verschwand aus dem Blickfeld, und die Sonne stand nicht mehr genau über uns - unsere Schatten fielen bereits vor uns auf die Straße. Zur Linken und Rechten gab es nur eine endlose flache Ebene, einzig unterbrochen durch gelegentliche Gummibäume oder Buschwerk. Nichts schien sich zu bewegen, kein Windhauch.

„Lassen Sie uns über die Zweite Wiener Schule sprechen“, sagte er. Ich bat ihn, das auf später zu verschieben, da ich unter Zeitdruck stand und mein Hauptanliegen war, mit ihm darüber zu sprechen, daß seine Ideen (wie er sie in Yehudi Menuhin - ein Knecht des Kapitalismus ausgeführt hatte) von den Organisatoren des Festivals in Berlin „gestohlen“ worden seien und nun vielleicht, in diesem Moment, sein Lebenswerk falsch dargestellt und von skrupellosen Agenten des Imperialismus der Lächerlichkeit preisgegeben werde. Etwa einen halben Kilometer lang antwortete er nicht - und sagte schließlich: „Wissen Sie, alle meine wichtigen Ideen sind geklaut worden, das ist kein neues Phänomen. Wo zum Beispiel glauben Sie, hat John Cage seine Idee für 4 Minuten 33 Sekunden her? Und was John Coltranes Konzept für Sheets of Sound („Klanglaken“) betrifft, so war ich im Garten und half seiner Frau Alice beim Aufhängen der Wäsche, als mir die Idee dazu kam. Nicht zu vergessen die Beatles, denen ich 1965 Violinstunden gab, verbunden mit ein bißchen Zen und anderem Zeug. Und schon verwendete John Lennon blitzartig einen Ausschnitt aus meinem 9. Violinkonzert für das 'Weiße Album‘ - und nannte das Stück natürlich No.9. Überflüssig zu sagen, daß die Version musikalisch völlig unzureichend war.“ Rosenberg ließ sich dann des langen und breiten über Diebstahl in der Musik aus und nannte Beispiele aus sämtlichen Epochen der Musikgeschichte, von Johannes Brahms zu Johnny Cash und John Birks 'Dizzy‘ Gillespie. Doktor Rosenbergs unglaublich fähiges Gehirn gliederte seine „Vorlesung“ in Unterabteilungen der musikalischen Diebstahls: zum Beispiel thematischer Diebstahl (etwa das Hauptthema des letzten Satzes in Mozarts Jupiter-Symphonie, gestohlen von Händel, der es von Corelli stahl, der wiederum von einem anonymen Komponisten), der stilistische Diebstahl (Woody Guthrie, Robert Zimmermann, Arlo Guthrie) oder Diebstahl im Namen der Musikpädagogik (Jamie Abersolls Einsatz und finanzielle Ausbeutung von Charlie-Parker-Kompositionen) oder sogar der Diebstahl persönlicher Merkmale und Nachbildungen von Musikern (Beethovens Todesmaske wurde unmittelbar nach seinem Tod kopiert und, maskiert als Original, in der ganzen Welt verbreitet. Eine Kopie, eingepackt in Beethovens Jacke, ging nach Australien - der Maler Graham Ingham besitzt jetzt die Maske, und Rosenberg trägt die Jacke auf!).

(Nicht zu vergessen der Diebstahl von Musik-Essays: So erinnert mich der Text verdächtig an Texte von Glenn Gould! Nicht, daß womöglich Diebstahl vorliegt, aber der Stil, die Richtung..., d.säzzer)

Die Schatten wurden länger, wir gingen weiter, und die Musik der Violine auf Rädern spielte mit gleichbleibendem Tempo - gelegentlich modulierte der Doktor die Tonarten, um einen neuen Zusammenhang hervorzuheben und zu betonen, den er auf dieser „anderen“ Reise durch die Musikgeschichte entdeckt hatte. Die Mitschnitte dieses Interviews werden noch in geeigneter Form veröffentlicht werden - dieser Artikel muß sich zwangsläufig kurzfassen.

Rosenberg war gerade mittendrin, die volksmusikalische Tradition der Salomononen-Inseln (das heißt Kontrapunkt in großen Sekunden) mit der Zweiten Wiener Schule zu verknüpfen, als er plötzlich für ungefähr 400 Meter aufhörte zu sprechen. Dann: „Wollen wir 'ne Dose zischen?“ Ich bat um Übersetzung ins Hochdeutsche. „Mögen Sie ein Bier oder zwei?“ Wunderbarerweise kamen ein paar Dosen eiskalten Bieres aus der Seite der Dreihals-Doppelkolben-Violine auf Rädern zum Vorschein. Er fuhr fort: „Gelegentlich benütze ich diese besondere Geige, um Schafe zu hüten. Das ist eine kleine Extra-Arbeit von mir. Ich mußte eine vernünftige Lösung für das Problem der Dehydrierung während der vielen langen Arbeitsstunden finden, daher die in die Violine integrierte Kühleinheit.“

Von diesem Gegenstand auf das Violinfestival in Berlin zurückzukommen schien nur ein kleiner Sprung. Ich informierte den guten Doktor darüber, das der Titel des Festivals tatsächlich The Relative Violin heiße, ein Konzept, das er zuerst im Buch Yehudi Menuhin - ein Knecht des Kapitalismus postuliert hatte. „Eigentlich noch früher“, sagte Rosenberg. Im Zweiten Weltkrieg war er ein Flieger-As in der Kaiserlichen Japanischen Luftwaffe gewesen. Es war während eines fehlgeschlagenen selbstmörderischen Sturzfluges auf einen amerikanischen Flugzeugträger, als ihm plötzlich die Allgemeine Musikalische Relativitätstheorie einfiel. „Tatsächlich erst später“, fuhr Rosenberg fort, sei er von der Nasa eingeladen worden, die Revidierte Allgemeine Musikalische Relativitätstheorie (auch bekannt als R.M.R.) dem Welt -Kultur-Paket beizuschließen, das an Bord der Raumsonde „Voyager 2“ zu anderen Galaxien gelangen sollte. Rosenberg betrachtete dies als einen weiteren Fall von Diebstahl, da eine Nebenklausel des Vertrags (die er versehentlich falsch gelesen hatte) vorsah, daß das Honorar für die Theorie erst dann ausgezahlt werden könne, wenn die Messungen der Sonde gründlich unter Konzertsaalbedingungen getestet worden seien, das hieße nach der Rückkehr der „Voyager 2“ zur Erde.

War das Festival The Relativ Violine in Berlin insofern ein Zusammenspiel mit der Nasa, oder ging da vielleicht sogar eine doppelte Verschwörung vor (zu belegen damit, daß beinahe die Hälfte der Musiker, die beim Relative-Violin -Festival auftreten, aus dem Ostblock oder aus verbündeten Ländern kommen)? Rosenberg stimmte dieser letzteren Annahme zu, indem er feststellte, daß nach der Neutralisierung der Ost-West-Beziehungen nun offensichtlich eine Verschwörung des gesamten Nordens gegen den Süden vorliege.

Es war schon später Nachmittag, und unsere Schatten dehnten sich etwa vier Meter vor uns aus. Der Doktor wies darauf hin, daß dies die bevorzugte Tageszeit der meisten Spezies der australischen Känguruh-Familie sei und daß wir bald eine relativ große Zahl von ihnen zu sehen bekommen würden.

So viel zu einem Mann, dem die Welt zu Füßen lag (sowohl als berühmtem Konzertgeiger als auch - buchstäblich - erstem Geiger, der den Mount Everst bestiegen hatte). Bedauert er etwas? Ja, eine Sache schon. In den frühen siebziger Jahren hatte ihn die CSIRO (eine staatliche australische Forschungsinstitution) eingeladen, ein Solokonzert vor 10.000 Pinguinen in der Antarktis zu geben - Teil einer Verhaltenspsychologischen Studie zum Zusammenhang von Konzertpublikum und Temperatur. Er hatte dies als weiteren Unfug staatlicher Politik abgelehnt. Im Rückblick hätte er aber doch gerne als erster Geiger vor diesem gut angezogenen und großen Publikum konzertiert. Und natürlich habe diese Idee wiederum mit der Zweiten Wiener Schule zu tun - wir gingen weiter.