Vorwärts in die fünfziger Jahre

■ Offizielle Kampfdemonstration in Ost-Berlin anläßlich der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg

„Vorwärts zum 40.Jahrestag der DDR“ lautet die Losung in diesem Jahr zur alljährlichen „Kampfdemonstration“ für Rosa Luxemnburg und Karl Liebknecht. Während die DDR auf der Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz ebenfalls die Schlußresolution unterzeichnete und sich damit für die Verbesserung der Menschrechte einsetzte, ist davon im Innern des SED-Staates nichts zu spüren. Auch in diesem Jahr gab es in Ost-Berlin wieder Verhaftungen, dieses Mal in Leipzig. Auf die Demokratisierungswünsche der DDR-Bürger reagiert die SED wie üblich: mit Ritualen, Repressionen und Beschwörung.

Berlin (taz) - Bilder wie in jedem Jahr: An der Spitze marschierte Staatschef Honecker zusammen mit weiteren Mitgliedern der Staats- und Parteiführung, gefolgt von zahlreichen Werktätigen, die den DDR-eigenen Sozialismus mit Transparenten wie „Mein Arbeitsplatz ist mein Kampfplatz“ lobten. Und Politbüromitglied Joachim Herrmann beschwörte bei der diesjährigen „Kampfdemonstration“ anläßlich der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vor 70 Jahren: „Das Vermächtnis von Karl und Rosa fand seine Krönung im Werden und Wachsen der Deutschen Demokratischen Republik.“ Der Kommentator des DDR-Fernsehens resümmierte, präsentiert habe sich eine „selbstbewußte Republik“, die „für die Aufgabe der kommenden Jahre gut gerüstet“ sei.

Während der offizielle Teil des alljährlichen Kampfappells routinemäßig ablief, griffen auch in diesem Jahr, das Luxemburgische Vermächtnis ignorierend, die DDR -Sicherheitsorgane zu. Beim Kampfappell vor einem Jahr hat es eine große Verhaftungswelle in Ost-Berlin gegeben - jezt kam es in Leipzig zu mindestens elf Festnahmen. Seit Donnerstag wurden junge Leute zwischen 20 und 30 Jahren aus Leipziger unabhängigen und kirchlichen Gruppen verhaftet, wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt sowie Schriftstücke und Tagebücher beschlagnahmt. Nach Einschätzung westlicher Beobachter stehen die Maßnahmen im Zusammenhang mit einem Flugblatt, das letzte Woche in Leipzig auftauchte und zu einer unabhängigen Demonstration zu Ehren Rosa Luxemburgs aufrief (siehe Dokumentation). Einige der jetzt Inhaftierten haben während der Internationalen Dokumentarfilmwoche gegen das Verbot der sowjetischen Zeitschrift 'Sputnik‘ und sowjetischer Filme protestiert. Sie ließen Luftballons mit der Aufschrift „Sputnik“ vor einem Leipziger Kino steigen. Sicherheitsbeamte und Polizisten haben sich daraufhin unter die Protestierenden gemischt und versucht, die Ballons mit brennenden Zigaretten zu zerstören.

Gegen die Verhaftungen haben in einer ersten spontanen Stellungnahme sowohl die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ und die tschechoslowakische Bürgerrechtsgruppe „Charta 77“ protestiert. Mehrere Mitglieder der Initiative Frieden und Menschenrechte waren im letzten Jahr im Zusammenhang mit der Gedenkdemonstration verhaftet und in den Westen abgeschoben worden. Den Zugriff der Sicherheitsorgane bezeichnete die Initiative als „erneuten Willkürakt“ und bat alle, „die für die Durchsetzung der nationalen und internationalen Menschenrechte eintreten, um ihre aktive Solidarität“.

Die Einschüchterungsaktion ist nach Einschätzung von westlichen Beobachtern die Quittung für zahlreiche Aktivitäten der Leipziger Szene, die auch nach den Januar -Ereignissen 1988 weitergingen. Am „Welt-Umwelt-Tag“ im Juni beispielsweise fand ein sogenannter „Pleiße-Gedenkmarsch“ statt, mit dem gegen die Verschmutzung des Flusses, der durch Leipzig fließt, protestiert wurde. Mit Flugblättern und Plakaten, die sich überall in der Stadt auf Litfaßsäulen und Kirchentüren fanden, wurde zuvor auf den „Gedenkmarsch“ aufmerksam gemacht. Obwohl sich die Leipziger Kirchenleitung auf Druck des Staates von dieser Aktion distanzierte, nahmen rund 200 Personen an dem Gedenkmarsch teil. Einer der jetzt Verhafteten hatte darüber in den Ost-Berliner Umweltblättern berichtet. Seit dem Frühjahr fanden darüber hinaus regelmäßig Friedensgebete statt, auf denen die Einhaltung der Menschenrechte eingeklagt und auch Kollekten für Graffiti-Maler gesammelt wurden, die Hauswände mit Gorbatschow-Parolen versahen.

Birgit Meding