Belgischer Skandalpolitiker verschwunden

Die Brüsseler Gerüchteküche kocht / Wurde Ex-Premier Paul Vanden Boeynants von linken Gruppen entführt? / Oder steckt hinter seinem Verschwinden eine rechtsradikale Organisation? / Nur eines ist klar: der christsoziale Politiker hat jede Menge Dreck am Stecken  ■  Von Alexander Smoltczyk

Das größte Schlitzohr der belgischen Politik ließ nur sein Hörgerät und einen Schuh zurück: Seit Samstag abend fehlt von dem ehemaligen Premierminister Paul Vanden Boeynants jede Spur. Die Brüsseler Staatsanwaltschaft geht bei ihren Ermittlungen davon aus, daß Vanden Boeynants auf dem Weg von seiner Garage zur Wohnung entführt worden ist. Für eine Entführung des 69jährigen Politikers sprächen, so Staatsanwalt Jean Vandoren Sonntag nacht vor der Presse, zur Zeit lediglich zwei ominöse Bekenneranrufe. Eine bislang unbekannte Gruppe CCRP (Cellules Combattants Revolutionnaires Proletariens) hatte sich am Sonntag bei der Tageszeitung 'Le Soir‘ gemeldet, und ein anonymer Anrufer gab der belgischen Rundfunkanstalt RTBF bekannt, eine „Sozialistische Revolutionäre Brigade“ habe Vanden Boeynants entführt. Das Innenministerium dagegen blieb gestern auffallend skeptisch: „Bisher gibt es keine Hinweise auf eine terroristische oder politisch motivierte Tat“, sagte ein Sprecher.

Tatsächlich ist der Fall alles andere als klar. Boeynants, der zweimal, von 1966 bis 1968 und 1978 bis 1979, Regierungschef war, ist einer der zwielichtigsten und (deswegen?) zugleich populärsten Politiker des Königreichs. 1986 wurde der ehemalige Fleischgroßhändler wegen Steuerhinterziehung und Urkundenfälschung zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt. Noch im Oktober, als die christlichsoziale PSC ihren ehemaligen Vorsitzenden für den Bürgermeisterposten der „Hauptstadt Europas“ nominierte, mußte Boeynants in letzter Minute - trotz seines Siegs bei den Gemeinderatswahlen - einen Rückzieher machen: Man munkelte etwas von einem Korruptionsskandal, in den Boeynants während seiner Amtszeit als Verteidigungsminister verwickelt gewesen sei. Die Staatsanwaltschaft hatte die Aufhebung der parlamentarischen Immunität beantragt. Just wegen dieser Affäre war er für diese Woche vor den Sonderausschuß des Parlaments geladen worden. Ein Zusammenhang mit dem plötzlichen Verschwinden?

In Brüssel wird noch über eine andere Spur spekuliert. Die Abkürzung SRB, mit der sich die „Sozialistischen Brigaden“ gemeldet hatten, habe auffällige Ähnlichkeit mit dem „Service Belgique de Renseignement“, einer nachrichtendienstlichen Unterabteilung der Gendarmerie. Ehemalige Mitglieder werden verdächtigt, zu dem rechtsradikalen Kommando zu gehören, das Anfang der 80er Jahre in Brabant insgesamt vierzehn Attentate verübte. Auch ist es kein Geheimnis, daß Boeynants Partei über ihren rechten Flügel „Cepic“ rechtsradikale Gruppen in Belgien mitfinanzierte. Gegenüber einem Fernsehjournalisten habe, so meldete die belgische Nachrichtenagentur 'Belga‘ gestern, Boeynants erst kürzlich geäußert, daß er Drohungen erhalten habe und sich „nicht sicher“ fühle. Die Drohungen müssen jedoch nicht aus dem rechtsradikalen Milieu kommen. Feinde hatte Boeynants genug. Nicht zuletzt ihm wird der Abriß vieler historischer Gebäude zugeschrieben, um Platz zu machen für die Bürohochhäuser und Highways des neuen Brüssel.