Ein Wahlkampf ohne Alternativen

■ Knapp zwei Wochen vor der Berliner Wahl scheint ein Sieg der CDU-FDP-Koalition klar

Glaubt man der jüngsten Infas-Umfrage, dann hat Eberhard Diepgen die Wahl schon gewonnen, die erst am übernächsten Sonntag stattfindet. Seine Koalition mit der FDP liegt danach mit 52 zu 46 Prozent vorn - gegenüber einem allerdings nur theoretischen SPD-AL-Bündnis. Auf 43 Prozent wird die CDU taxiert (1985: 46,4), dafür soll die FDP leicht, auf 9 Prozent, zulegen. Die SPD ist schon mit einer „gestärkten Opposition“ (Umfragewert: 34 Prozent) zufrieden, die AL hält sich bei gut 10 Prozent.

Im Grunde war die Wahl im Dezember 1986 entschieden. Das Jahr des „Berliner Sumpfes“ ging zu Ende, und der Regierende Bürgermeister hatte es ohne Sturz überstanden. Wenige Monate zuvor hätte kaum jemand einen Pfifferling auf seine politische Zukunft gegeben: Diepgen stand als Karrierist dunkler Herkunft da und mußte persönlich im Abgeordnetenhaus um seinen guten Leumund kämpfen. Seine Regierung erschien als neue Mafiafamilie, als eine Combo fixer Jungs, geeint aus Fluchthelfer- und Schwarzmarktzeiten. Der wichtigste Wirtschaftssektor der Stadt, das Baugewerbe, war offensichtlich der Bordellszene und der Bauspekulation ausgeliefert. Die Medien jagten nach dem photographischen Beweis der Freundschaft zwischen Diepgen und einem Bordellchef namens Schwanz. Bausenator Francke und Innensenator Lummer mußten gehen; Exponenten des CDU -Mittelbaus wie die Stadträte Antes und Herrmann standen vor Gericht und wurden verurteilt. Berliner Politik wurde zum Spiel auf Zeit: Regierungssturz bis Ende 86, oder der Senat gewinnt die Wahl 89 - denn für 87 stand die 750-Jahrfeier der Stadt an und für 88 die „Kulturstadt Berlin“.

Tatsächlich war dann die sogenannte „Festivalkultur“, von der Opposition mit allzuguten Gründen gleichförmig bemäkelt, der eigentliche politische Erfolg der regierenden Koalition. Die vom Bund ausgehaltene Stadt muß wenigstens gut verkauft werden, Berlin, die Edelnutte bundesdeutscher Normalität, muß glitzern. Und Diepgen erwies sich als Teflon -Bürgermeister - bis auf den heutigen Tag. Wiewohl direkt verantwortlich für den Verfassungsschutz, blieb er unberührt vom Skandal. Er war sogar souverän genug, eine radikale Reform in bezug auf „Größe“ und „Organisation“ des Dienstes anzukünden.

Der Mann

ohne Eigenschaften

Daß jetzt die CDU erfolgreich einen personalisierten Wahlkampf mit der Unperson Diepgen führen kann, muß erklärt werden. Sein taktisches Geschick ist stadtbekannt, bei heiklen Themen wie Arbeitslosigkeit oder Mietwucher war er nie auf den Mund gefallen. Aber wie konnte „dat Diepchen“ (wie er noch vor wenigen Jahren genannt wurde) zum Star werden, er, der Mann ohne Eigenschaften? Deswegen wohl, weil er wie kein anderer die frustrierte Mittelachse der Bevölkerung, den aggressiven Sozialcharakter des „Normalberliners“ verkörpert, der die Sonderrollen der Stadt, vom Bollwerk der Freiheit bis hin zur alternativen Utopie, einfach satt hat. Diepgen, das ist die verstockte ressentimentgeladene westdeutsche Normalität.

Die Alternative hierzu - Berlin als dritter deutscher Zustand, als Stadt Mitteleuropas - verkörpert niemand, schon gar nicht die Opposition; für diese Alternative gibt es auch keine Ideen. Mithin kann die CDU zurecht für ihren „Regierenden“ mit dem Motto werben: „Ihn braucht Berlin“.

Auch personelle Konkurrenz braucht Diepgen nicht zu fürchten. Die Alternative Liste (AL) verzichtete von sich auf darauf, ihre beiden qualifizierten Spitzenkandidatinnen (Heidi Bischoff-Pflanz und Hilde Schramm) zu präsentieren. Und die SPD hält ihren Kandidaten, Walter Momper, zurecht für nicht präsentabel. Nur 14 Prozent der Wähler halten ihn (nach einer 'Stern'-Umfrage) für weltoffen, ganze 7 Prozent für charmant (die Werte für Diepgen: 62 beziehungsweise 69 Prozent). Momper hat allerdings auch seine einzige Profilierungschance verspielt: als er sich als Berliner Lafontaine versuchte. Ein Machtwort vom Berliner DGB-Chef Pagels („nicht wählbar“) genügte, um ihn zu Kreuze kriechen zu lassen.

Doch die Opposition verzichtet nicht nur auf personality - es gibt auch keine wirkliche Alternative zum CDU-FDP-Bündnis. SPD und AL haben es versäumt, die Koalitionschance auch nur ernsthaft in die Debatte zu bringen. Erst in buchstäblich letzter Minute ist die AL in einer Art realpolitischer Torschlußpanik von Vernunft überfallen worden und hat ein Koalitionsangebot unterbreitet - in einem offenen Brief. Die SPD erstarrte prompt in panischen Abwehrgesten.

Die Message der Opposition: Die Wahl ist schon verloren. Die SPD erlaubt sich nur den Traum von 35 Prozent („eine starke Opposition“). Vor vier Jahren lag sie bei 32,4 Prozent. In ihrer Wahlaussage zeigt sie sich „AL-isiert“: Wie früher die Grünen wirbt heute sie ausschließlich für „unsere Inhalte“ und erklärt die machtpolitische Frage für sekundär. Kein Wunder, daß zwei Wochen vor der Wahl die Unentschlossenen (je nach Umfrage) noch 20 bis 40 Prozent der Wähler ausmachen.

Subventionopolis

Wenn es schon keine Wahlalternative gibt, gibt es dann eine politische Alternative? - Kaum. In der Deutschlandpolitik steht dem Opportunismus der CDU gegenüber der DDR nur die sozialdemokratische Predigt für die alte Bahrsche Verhandlungsführung (Berlin-Klauseln in alle Bonner Verträge) gegenüber. Keine Partei macht den Versuch, überhaupt eine eigene deutschlandpolitische Verhandlungslinie für die Stadt in der Ära Gorbatschow zu entwickeln.

Eine wirtschaftspolitische Alternative zu Subventionopolis ist nicht vorhanden. Hier ist die CDU ohnehin auf zwei Politikfeldern nicht zu schlagen: Kulturpolitik und Sozialpolitik. Kultursenator Volker Hassemer hat in den beiden Festivaljahren einen massenwirksamen Kulturbegriff entwickelt, der die Berliner zu Touristen der eigenen Stadt macht. Von schräg bis postmodern, von dezentral bis exklusiv ist alles im Angebot. Er hat alle Kulturinitiativen am gemeinsamen Staatstrog versammelt, Kritik gegen ihn klingt wie Geschrei am Trog. Hinzu kommt eine postmoderne Stadtverschönerung, die das melancholische Nachkriegsberlin an anstößigen Punkten auslöschte. Sozialsenator Fink hat es verstanden, kostensparende Selbsthilfe in den Sozial staat zu integrieren und damit der ÖTV-Partei SPD den Rang ab gelaufen.

Für die anderen Streitpunkte - Arbeitslosigkeit, Mieten, Wohnungsbau, Schulpolitik - gilt, daß der Senat grundsätzlich keines der Probleme gelöst, sie aber alle anerkannt hat. Und gewisse Erfolgsbilanzen kann er auch vorweisen: Immerhin gibt es mehr Arbeitsplätze in Berlin als vorher, und die Stadt wächst wieder über die - vor einigen Jahren unterschrittene - Zwei-Millionen-Grenze hinaus.

In dieser Situation des Nicht-Wahlkampfes agiert nach Meinung aller die SPD am unglücklichsten. Sie versucht (im Gefolge der Glotzschen Forderung nach „Begriffshegemonie“) ausgerechnet den Begriff „Freiheit“ zu besetzen: „Berlin ist Freiheit“, steht auf ihren Plakaten. Ein Thema, das in der alten Frontstadt nun gar nicht zieht.

Schließlich die AL: Sie ist eine Exil-Partei in Berlin, deren Programm am ehesten noch einem kleinkarierten Wunschzettel von Utopien ähnelt, die alle ein gesünderes Leben, aber kein Leben in einer Metropole versprechen. SPD wie AL sind Klientel-Parteien, deren Politikkonzept darin besteht, „an der Grundlinie auf die Fehler der anderen zu warten“ (wie zumindest in der AL viele selbstkritisch zugeben).

Die Oppositionsparteien drücken die Verödung des politischen Raumes aus, den Abschied von Politik in einer Zeit, in der die politischen Spannungen in der Bevölkerung immer interessanter werden. Es gibt mindestens vier Berlins: das große Getto der Mitte, das alternative Getto, das multikulturelle Getto und (zunehmend) das osteuropäische Getto. Für viele liegt Berlin vor den Toren Warschaus, Istanbuls oder New Yorks. Für die Berliner Parteien irgendwo in den Vororten von Bonn. An dem Sieg Diepgens gibt es keinen Zweifel.

Klaus Hartung