Irgendwie die Ziele aus den Augen verloren

■ An der bislang sehr aktiven Hermann-Hesse-Schule bröckelt die Streikfront ab / Die Forderungen der SchülerInnen sind nach wie vor aktuell, die Aktivitäten jedoch inhaltsleer / SchülerInnen plädieren für eine Urabstimmung

„Besetzt“ - das Transparent trügt. Die Schüler klettern scharenweise aus dem Fenster und gehen nach Hause. Der Streik der Kreuzberger Hermann-Hesse-Oberschule wird zum politisierten Schulfrei. Stellvertretender Schülersprecher Urs Zeidler steht draußen auf der Straße und sieht mit an, wie die Jungen und Mädchen johlend auf die Straße springen. Ist das der Rest vom Schülerboykott der Hermann-Hesse -Schule? Sie war schließlich eine der aktivsten, die von der ersten Stunde an dabei war. Ein Lehrer kommt auf Urs zu und sagt mit strenger Miene, daß die Schulleitung eine „Übernachtung“ im Schulgebäude „nicht dulden“ werde. Doch der besetzte „Bunker“, wie die Schüler das Nebengebäude der Schule nennen, ist ohnehin fast leer.

„Mir stinkt's,“, sagt Urs. Es gebe zwar einen Streik, aber keine richtigen Aktivitäten mehr. Die AGs, in denen anfangs noch „was gemacht“ wurde, hätten sich „zur Depression hin entwickelt“. Ein Klassensprecher aus der Oberstufe: „Hier sind ja nur Siebtkläßler. Die nehmen das alles sowieso nicht ernst. Es sollten schon einige Schüler aus der Oberstufe dabei sein. Sonst hat der Streik keinen Inhalt.“

Im eigentlichen Schulgebäude findet normaler Unterricht statt. Ein Mädchen verbringt seine Freistunde lesend auf einer Bank. Es stehe zwar hinter dem Streik und der Hauptforderung nach mehr Mitbestimmung der Schüler. „Aber irgendwie sind mir die Ziele aus den Augen gegangen.“ Es gebe zu wenig Information zwischen den Streik-Aktivisten und dem Rest der Schüler. Man wisse gar nicht genau, was laufe, ob weiter besetzt oder demonstriert werde. „Streik ist für mich das letzte Mittel einer Reihe von Möglichkeiten. Aber wir hier haben es als erstes aufgegriffen.“ Jetzt sei die Energie verpulvert.

Unter den Schülern kursiert die Stellungnahme eines „Streikbrechers“. Der Verfasser, Thorsten Discher, kritisiert, daß die Schüler „manipuliert“ worden seien. Eine Urabstimmung auf einer Vollversammlung habe es nicht gegeben. Mitten im Unterricht sei eine Gruppe von Schülern hereingeplatzt. Sie „sprach dem Lehrer das Rederecht ab und erzählte uns, die Schule wäre besetzt; wir wären die einzigen feigen Schüler, die nicht streiken, und wir sollten nun endlich den Mut fassen, uns dem Streik anzuschließen“. Dieser Streik könne nur als „aufgesetzt empfunden“ werden.

Die Schülervertreter wollen inzwischen selbst eine Urabstimmung. „Dann wissen wir endlich, ob wir die Masse hinter uns haben.“ Urs Zeidler sagt, daß man anfangs eine Urabstimmung bewußt vermieden habe, „weil sie uns zu risikoreich erschien“. Die Lehrer hätten „dreinreden“ und die Schüler davon abhalten können. Am Freitag soll nun eine Urabstimmung stattfinden. „Diesmal wollen wir es riskieren“, sagt Urs.

Auf der gestrigen Sitzung der Schülervertreter sprachen sich diese bei drei Stimmenthaltungen für eine „Solidarisierung mit den Streikenden“ aus. Von den 46 Vertretern waren aber nur etwas mehr als die Hälfte zur Sitzung gekommen. Viele unter den Fehlenden gehören zur Oberstufe.

Den Schülern sollen noch einmal die Hauptforderungen nahegelegt werden: mehr Mitbestimmung auf schulischer, bezirklicher und Landesebene, die Rücknahme der Stundentafel -Kürzung sowie „Abi-Deform“, nach der Oberstufenschüler zwei Grundkurse mehr machen müssen, freie Wahl des Unterrichtsstoffes, ein Streikrecht, keine Zensur der Schülerzeitung sowie ein politisches Mandat. Der Streik solle „neu aufgebaut“ werden. Wie er jetzt laufe, sei er eher zufällig. Urs: „Wir werden probieren, morgen (also heute, die Red.) weiterzustreiken.“

E.K.