Der Sandmann geht - Bingo kommt

■ Die tägliche Gute-Nacht-Geschichte für die kleinsten Glotzengucker wird abgesetzt / Der älteste Moderator der Funkmedien macht einem Glücksspiel Platz / Kinder im Vorabendprogramm der ARD unerwünscht

Berlin (taz) - Die Programmdesigner der öffentlich -rechtlichen Fernsehanstalten haben einen schweren Stand: Eingeklemmt zwischen Tagesschau, Dallas und anderen heiligen Kühen der Programmstruktur suchen sie in kreativem Eifer nach immer neuen Programmplätzen, um auch noch den letzten, dummschwätzenden Showmaster vom Absprung in die privaten TV-Stations abzuhalten. Jetzt haben die Fernsehdirektoren der ARD ihren Serienschneidern ein neues Schnippelfeld freigegeben: Das Vorabendprogramm zwischen 17 Uhr 25 und der 20-Uhr-Tagesschau soll „großflächiger und übersichtlicher gestaltet“ werden. Ein prominentes, aber unauffälliges, weil nur wenige Minuten dauerndes Opfer der Umräumaktion ist die sogenannte „Sandmännchenleiste“, die Gute-Nacht-Geschichte für die Kleinsten. Der alte Mann mit den drolligen Geschichten, der Generationen von Kindern in die Betten geschickt hat, verschwindet spurlos in der Kiste.

Bei einigen ARD-Anstalten war der greise Moderator in Puppengestalt schon vor Jahren zurückgetreten, sein Programm mit den phantasievollen Zeichentrick- oder Puppengeschichten aber erhalten geblieben. Im Rahmen der Arbeitsteilung der ARD-Sender hatte der NDR die Produktionsleitung und Verwaltung dieser Serie übernommen. Am 1.April dieses Jahres soll nun endgültig diese für Millionen Eltern unübertroffene Autorität über die Schlafenszeit der lieben Kleinen ersatzlos gestürzt werden. Tatsächlich ist das Sandmännchen neben Nachrichtensendungen das älteste Programm der Funkmedien überhaupt. Seit den zwanziger Jahren im Radio, seit 1965 auch im TV, markiert die Sendung den gesamtgesellschaftlichen Konsens darüber, wann der Tag für kleine Menschen zu Ende geht. Die Fernseh-Version, eine weißbärtige bewegte Puppe, war zudem eine Art gesamtdeutsche Erscheinung. Ihr Erfinder, Herbert K.Schulz, entwickelte die Rahmenfigur Anfang der fünfziger Jahre zunächst in der DDR, wechselte dann vor dem Mauerbau in den Westen und ließ hier für die ARD die Puppen tanzen. Grenznahe Regionen werden auch zukünftig mit Sandkörnchen aus der Mark Brandenburg berieselt werden. Das Sandmännchen von drüben bleibt im Amt.

Bereits im Sommer 1987 hatten die Programmchefs des NDR versucht, den attraktiven Sendeplatz mitten in der Fernsehwerbung freizuschaufeln. Jewgenij Ganchev, einer der wenigen in der Bundesrepublik arbeitenden Produzenten von Zeichentrickfilmen, erinnert sich: „Der NDR schickte uns mitten in der Nacht ein Telegramm und teilte in zwei Sätzen mit, daß es zukünftig keine Sandmännchenproduktionen mehr geben werde. Unser Trickfilmverband, vor allem aber empörte Zuschauer, konnten durch Proteste noch einmal verhindern, daß den Kindern dieses so beliebte Programm auf kaltem Wege weggenommen wird.“

Damals wie heute begründet die ARD Sandmännchens letzte Himmelfahrt mit den angeblich hohen Produktionskosten von Trickfilmen. Mit dem kürzlich angenommenen Kompromiß der Bundesländer zur Erhöhung der Rundfunkgebühren reduziert sich das Budget des NDR um einige Millionen Mark. Also müße, so die Intendanz, in jedem Bereich gespart werden. Zudem sei das Werbeumfeld der Sendung ein pädagogisch bedenklicher Faktor. Als Ausgleich gebe es ja in den Dritten Programmen der Landessender etwa zur gleichen Zeit längere Kindermagazine, zum Beispiel die auch Vorschulkinder ansprechende Sesamstraße.

Der Vorsitzende des westdeutschen Trickfilmverbandes, Alexander Zapletal, hält das Kostenargument für einen Vorwand: „Eine der großen Quizsendungen kostet weit mehr als die Jahresproduktion des Sandmännchens. Kleinkinder haben eben bei uns keine Lobby. Und wir, die Trickfilmer, sind die ärmsten Stiefkinder des deutschen Filmwesens.“

Im Sender Freies Berlin, wo die Sendung schon seit dem 1.Januar dieses Jahres abgesetzt ist, nimmt man offenbar die pädagogische Rücksicht auf die werbemäßig leicht zu beeinflußenden Kinder nicht allzu ernst. Wenn, wie jetzt im Winter, das Werbespotaufkommen gering ist, wird kurzerhand einer der oft künstlerisch wertvollen Trickfilme aus dem ehemaligen Sandmännchenprogramm wiederholt. Ohne den sogenannten Abspann, die Nennung der Autoren und Zeichner. „Typisch“, findet Liliana Lützkanova, seit Jahrzehnten als Malerin auch für den Sandmann tätig. „Der Trickfilm als Kunstform ist in der Bundesrepublik, was die Produktion betrifft, anscheinend zum Tode verurteilt. Im Ausland weiß man schon gar nicht mehr, daß es einen westdeutschen Trickfilm gibt. Die Entscheidung der ARD bedeutet eine kulturelle Verarmung. Mir geht es nicht um meine Produktion. Ich bin traurig darüber, daß die Kinder jetzt ohne diese wunderschönen Geschichten, statt dessen mit der 'Tagessschau‘ im Kopf schlafengehen. Kann man überhaupt mit der 'Tagesschau‘ schlafengehen?“

Doch ein Ersatz für den Geschichtenerzähler ist schon in Sicht. Noch im Januar soll der Programmbeirat des NDR eine Entscheidung fällen. Die angeblich die „Programmsicherheit und Übersichtlichkeit“ störende Vier-Minuten-Sendung inmitten der Konsumreizer soll zu einem Kurz-Quiz umfunktioniert werden. Das tägliche Bingo-Spiel im ersten Kanal. In dem Live-Spot mit Zuschauerbeteiligung (vor und hinter der Kamera) dürfen Groß und Klein einige umwerfend intelligente Fragen eines charmanten „Masters of the Bingo“ beantworten und dabei 50 Mark gewinnen. Ebenfalls gewinnen werden die Lotto-Zentralen, die sich an dem täglichen Blödsinn beteiligen wollen. Geheime Pläne, ab Frühjahr 1990 die Tagesschau in Form eines Ratespiels darzubieten, wollte der NDR bisher nicht bestätigen.

thore