„Irrsinniger Tanz der Preise“ und das Ende des Sozialpakts

In Brasilien wird auch der Präsidentenberater beim Einkauf eines Fernsehers von der Inflation ausgetrickst / Nach neuem Plan hofft Präsident Sarney auf „ruhige Wahlen“  ■  Von G. Weber und U. Kulke

Berlin (taz) - Der Präsidentenberater Henrique Hargrives hatte sich in seinem engen Terminkalender für Freitag morgen eine Stunde für den Kauf eines ultramodernen Fernsehers reserviert: Typ Mitsubishi, im Wandschrank versenkbar, mit großem Schirm und Fernbedienung. Der Kauf war für ihn schon ausgemachte Sache, bis sein Blick zufällig auf das Preisschild fiel: vier Millionen Cruzados, laut offiziellem Kurs 4.700 Dollar. Der habe aber in der vergangenen Woche eine Million weniger gekostet, protestierte der Käufer, den nun alle Kauflust verließ, und eilte an seinen Arbeitsplatz in den Regierungspalast zurück. Nach stundenlangem Überlegen entschied er sich doch für den Kauf und kehrte nach Feierabend in das Geschäft zurück. Aber da war der Preis schon auf 7,8 Millionen Cruzados geklettert. Falls er das Gerät zum alten Preis erwerben könne, ließ er den Verkäufer wissen, sei er noch am Kauf interessiert.

Diese Anekdote wurde von der angesehenen Tageszeitung 'Jornal do Brasil‘ unter dem Titel „Der irrsinnige Tanz der Preise“ veröffentlicht. Wie dem prominenten Regierungsangehörigen geht es seit letzter Woche allen Brasilianern. Die angekündigte Rede von Präsident Jose Sarney am Sonntag abend hatte die Unternehmer die Einfrierung der Preise befürchten und sie vorher noch einmal kräftig ausholen lassen. Wie erwartet hat Sarney mit seinem „Sommer-Plan“ (in Brasilien ist jetzt Hochsommer) im Fernsehen die Festschreibung von Preisen und Löhnen verkündet. Der Cruzado, erst vor drei Jahren geschaffen, wird um 17 Prozent abgewertet und gleichzeitig eine neue Währung geboren: der neue Cruzado, der drei Nullen weniger als der alte hat und einem US-Dollar entspricht. Es wird ein neues „Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung“ geben, während gleich fünf dicht gemacht werden: die Ministerien für Landreform, für Bewässerung, für Wohnungswesen, für sozialen Wohlstand und für Industrie und Handel. Insgesamt sollen ab sofort 60.000 Angestellte nach Hause geschickt werden.

Devisengeschäfte laufen nur noch über die Zentralbank, um Kapitalflucht zu verhindern. Die derzeitige Devisenreserve wird auf sechs bis sieben Milliarden Dollar geschätzt. Eine erneute Aussetzung der Zinszahlungen wird daher nicht mehr ausgeschlossen, falls sie - so Finanzminister Mailson da Nobrega ein „kritisches Niveau“ erreichen.

Sarney rief seine Landsleute zu einem „gemeinsamen Werk“ und zur „Rettung der Nation“ auf und forderte „Verzicht und Mut“. Er begründete die drastischen Maßnahmen mit der Kontrolle der Inflation, die im vergangenen Jahr 933 Prozent erreicht hatte. Ohne diese Opfer, so Sarney im Fernsehen, könnte die Inflation auf 1.500 Prozent klettern und einen Staatsstreich nach sich ziehen. Er hoffe aber, daß „die nächsten Wahlen ruhig verlaufen werden“. Im kommenden November werden 80 Millionen Brasilianer zum ersten Mal seit 29 Jahren wieder einen Präsidenten wählen.

Die gemäßigte Gewerkschaft CGT hat nach der Veröffentlichung des „Sommer-Plans“ einen Generalstreik ausgerufen. „Wir haben auf den Dialog gesetzt, aber es hat nicht funktioniert“, begründete CGT-Sprecher Luis Antonio Medeiros. Die CGT kündigte den „Sozialpakt“ auf, den sie erst im November mit Regierung und Unternehmern abgeschlossen hatte. In dieser konzertierten Aktion war festgeschrieben worden, daß die Löhne der Inflationsrate des Vor-Monats angeglichen werden. Nun sollen ab Februar die Löhne nur gemäß des Durchschnitts des Jahres 1988 angehoben werden. Kurz vor Bekanntgabe der Sparmaßnahmen waren die Preise nicht nur für Luxusgüter wie Fernseher in die Höhe geschnellt. Die Regierung hatte zwei Tage vor Bekanntgabe des Sparplans die Preiserhöhung für Brot und Milch genehmigt, die prompt um 27% gestiegen waren. Zigaretten waren um 55% teurer geworden, Sprit um 30%, Strom um 15% und die Telefongebühren um fast 200 Prozent. Der Abgeordnete Antonio Delfin Neto, früherer Wirtschaftsminister der Militärs und „Architekt des brasilianischen Wirtschaftswunders“, schätzt, daß die Unternehmer mit den Preiserhöhungen der vergangenen Woche das Einfrieren für mindestens zwei Monate ausgeglichen haben.

Die linke Gewerkschaft CUT, die dem Sozialpakt nicht beigetreten war, hat zu einem „Generalstreik in Etappen“ aufgerufen. Danach soll das Land zuerst 24 Stunden lahmgelegt und danach verhandelt werden, im Fall des Scheiterns soll 48 Stunden gestreikt und wieder verhandelt werden. Danach 72 Stunden Generalstreik, und wenn die Gespräche wieder kein befriedigendes Ergebnis bringen, soll unbefristet gestreikt werden.

Die Arbeiterpartei stieg angesichts der Notverordnungen in den Wahlkampf ein. Ihr Präsidentschaftskandidat, der Gewerkschaftsführer Luis Inacio Lula de Silva, kritisierte die moderate Schuldenpolitik der Regierung und kündigte für den Fall seines Wahlsieges die Einstellung der Zinszahlungen an die Gläubigerbanken an.

Versuche der brasilianischen Regierung, auf administrativem Wege der Inflation beizukommen, sind im Lande seit der Ablösung der Militärregierung 1985 inzwischen Tradition allerdings auch das Scheitern. Angefangen hatte alles mit dem spektakulären „Cruzado-Plan“ am 28. Februar 1986. Die Währung gleichen Namens löste den vorherigen Cruzeiro im Verhältnis 1:1.000 ab. Gegenüber dem Dollar wurde sie sogleich stark abgewertet, dafür aber ein fester Wechselkurs eingeführt. Große Hoffnung setzte Präsident Sarney seinerzeit in einen vollständigen Lohn- und Preisstopp. Damit war das 20 Jahre lang geltende Index-System abgelöst, das zuvor die Löhne aber auch den Wechselkurs gegenüber dem Dollar stufenlos an die Preisentwicklung im Lande angeglichen hatte.

Das Programm war seinerzeit auch unter den Gewerkschaften recht populär, die Bevölkerung beteiligte sich an der Überwachung des Preisstopps. Supermärkte, die sich nicht daran hielten, mußten schon mal den Glaser bestellen. Durch allerlei Tricks, die in vielen volkswirtschaftlichen Lehrbüchern für den Fall eines verordneten Preisstopps angekündigt werden, bemühten sich jedoch Händler und andere Unternehmer mit Erfolg, die Beschränkungen zu umgehen: Zurückhalten der Ware, Verkauf nur gegen diverse Aufschläge, Schwarzmarkt usw. Die Folge: Die Inflation schritt munter weiter voran. Für den Fall hatte man im Cruzado-Plan logischerweise - vorgesehen, auch die Löhne anzuheben, so daß der Kreislauf nun wieder komplett war.

Im Mai 1987 betrug dann die Inflation schon wieder 23 Prozent pro Monat. Gleichzeitig hatten die Maßnahmen keineswegs die erhofften wirtschaftlichen Auftriebskräfte entfachen können, im Gegenteil. In den ersten fünf Monaten 1987 hatten nach Gewerkschaftsangaben rund zwei Millionen Menschen ihre Arbeit verloren, 280 Firmen allein in Sao Paolo mußten Pleite anmelden. Am 15. Juni 1987 versuchte sich die Regierung dann erneut in Stopp-Politik, diesmal allerdings nur Lohnstopp. Auf die Bemühungen, auch die Preise einzufrieren, verzichtete man mangels Kontrollmöglichkeiten und aus der Erfahrung des Cruzado -Planes weitgehend lieber. Man vertraute darauf, daß mangels Lohn auch die Preise nicht mehr astronomisch wachsen könnten - was in Brasilien jedoch ein hoffnungsloses Unterfangen war.

Im November vergangenen Jahres schließlich hatte Sarney vorübergehenden - Erfolg in seinen Bemühungen um eine konzertierte Aktion. Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung verbanden sich zum sogenannten „Sozialpakt“ in Verbindung mit einem neuen „Plan“: Die Preise sollten im November um höchstens 26,5 und im Dezember um 25 Prozent steigen, während die Löhne um nicht mehr als 21 bis 26 Prozent angehoben werden sollten. Gleichzeitig verpflichtete sich die Regierung dazu, binnen 30 Tagen einen detaillierten Plan zur Sanierung der Staatsfinanzen zu erstellen. Die Hausaufgaben hat Sarney erfüllt - allerdings mit dem Ergebnis, daß der Sozialpakt auch schon wieder beendet ist.