Der Pastor predigt gegen Tiefflüge

Jahrelang von Tiefflugseuche geplagte BürgerInnen von Wiesmoor erwachen / Der Absturz hat vielen die Augen geöffnet Auf einer Bürgerversammlung planen sie einen Schulboykott als Protest gegen Tiefflüge  ■  Aus Wiesmoor Klaus Schloesser

Nach dem Gottesdienst humpelt Hinrich Behrends aus dem Kirchlein über den kleinen Kirchvorplatz auf dem kürzesten Weg über den pingelig kurzgestutzten Rasen in Richtung Pfarrhaus und drückt Pastor Henning Buchhagen anerkennend die Hand. Dieser hat gerade seine Predigt in der rappelvollen Kirche mit dem Satz geschlossen: „Uns mit aller Kraft für die Liebe einzusetzen, das heißt für mich heute, zuerst einmal alles in meiner Möglichkeit Stehende zu tun gegen Tieflüge über bewohnten Gebieten.“

Hinrich Behrends hat sich „schon immer über die lärmenden Dinger“ in der ostfriesischen Luft über Wiesmoor aufgeregt. Und für die Vielzahl der „zugereisten“ Journalisten klopft er wie zur Bekräftigung auf sein Holzbein: „Mein richtiges liegt noch in Rußland.“ Über eins allerdings hat sich der Bürgermeister, der die Geschicke der 10.000-Seelen-Gemeinde seit über 20 Jahren lenkt, fast noch mehr empört: „Daß die Leute sich hier jahrelang so verdammt wenig über die Tiefflieger aufgeregt haben.“

Sicher. Geärgert haben sich die meisten schon mal kräftig, wenn direkt zur besten Mittagsschlafzeit eine Tiefflugformation über die Dorfdächer donnerte, die Kinder ängstlich ins Haus gerannt kamen, und die Hunde sich platt auf den Boden warfen. Und besonders pietätvoll fand auch niemand, daß man in Wiesmoor „nicht mal anständig unter die Erde kommt“, weil der Pastor seine Grabreden immer unterbrechen mußte. Aber schließlich durfte man auch den Bundeswehr-Sportplatz direkt hinter der Grundschule mitbenutzen, und schließlich war die Bundeswehr einer der größten Arbeitgeber im Landkreis.

Seit Freitag, den 13.1. 1989, 9 Uhr 52, ist die Welt von Wiesmoor nicht mehr die, die sie einmal war, mit BürgerInnen, die sich vor allem für ihre hübschen Rotklinkerhäuschen mit den tief heruntergezogenen Dächern interessieren, für die großen Gärtnereien und Baumschulen, von denen viele hier leben, fürs Wetter und die Schulzensuren der Nachbarskinder.

Am vergangenen Freitag rasten kurz hinter Dorfkirche und Grundschule ein britischer Tornado und ein Bundeswehr-Alpha -Jet ineinander, und nur durch ein Wunder oder, wie es Pastor Buchhagen in seiner Predigt ganz weltlich ausgedrückt hatte, „weil wir mehr Glück als Verstand hatten“, landeten die brennenden Wracks nicht mitten im Wiesmoorer Ortsteil Hinrichsfehn, sondern auf den morastigen Kuhweiden.

Seit jenem Freitag, dem 13., reden die Wiesmoorer nur noch über eins: Die Tiefflieger und vor allem - was man dagegen tun kann. Die Lokalzeitungen berichten noch Tage nach dem Absturz auf mehreren Seiten über die Stellungnahmen der Lokalpolitiker. In den Bussen, die die SchülerInnen täglich ins nahegelegene Schulzentrum bringen, überbieten sich die Kinder wechselseitig mit Schauergeschichten zu den Funden von Wrackstücken, Piloten-Uniformresten und Leichenteilen in ihren Vorgärten. Seit dem 13.1. läuten pünktlich um 9 Uhr 52 die vier Kirchenglocken von Hinrichsfehn - „als Mahnung und Erinnerung, daß es sofort wieder passieren kann und wir dann vielleicht nicht wieder solches Glück haben“.

Am Montag abend drängeln sich über 500 Hinrichsfehner in der Dorfkirche zu einer ersten „Bürgerversammlung“, zu der der Pastor während seiner Sonntagspredigt von der Kanzel aus eingeladen hatte. Bis in die späte Nacht überlegen sie, „was wir als betroffene Bürger tun können“, und sammeln für einen Kranz für die beiden Piloten, die bei dem Absturz ums Leben kamen. Am Ende wird ein Resolutionsentwurf diskutiert: „Wir sind nur um Haaresbreite einer Katastrophe entgangen. Nur durch Zufall sind wir mit dem Leben davongekommen. Wir fürchten um unser Leben. Wir fordern, daß alle alle Tiefflüge sofort eingestellt werden und unser Verteidigungskonzept neu überdacht wird.“

Zur BürgerInnenversammlung ist auch einer der in Wittmund stationierten Soldaten gekommen. Er glaubt, daß die Bundeswehr nicht völlig auf Tiefflüge verzichten kann. Auch er darf ausreden. Für seinen Formulierungsvorschlag für eine „drastische Einschränkung der Tiefflüge“ regen sich aber nur ein paar vereinzelte Hände zu zustimmendem Beifall. Es bleibt dabei: Die Tiefflüge müssen ganz aufhören. Wieder zu Hause malen manche noch in der gleichen Nacht Transparente für ihre blankgewienerten Wohnzimmerfenster und den kurzgeschorenen Rasen in den schmucken Vorgärten. Drauf steht zum Beispiel: „Wir haben nichts gegen die Bundeswehr, was hat die Bundeswehr gegen uns?“

Am nächsten Morgen sind alle Teelichte, Fackeln und Kerzen in Wiesmoor ausverkauft. Für den Abend hat die gerade gegründete Bürgerinitiative gegen Tiefflug zu einer Menschen - und Lichterkette rund um die Absturzstelle des Tornado aufgerufen. Obwohl alle, die am Montag abend bei der Versammlung dabei waren, wiedergekommen sind und noch rund 1.000 mehr, hat sich die gerade gegründete Bürgerinitiative gegen Tiefflug ein bißchen verschätzt: Ganz geschlossen ist die Menschenkette auf den vier Hauptstraßen rund um die Absturzstelle des britischen Tornado nicht. Am nächsten Freitag, eine Woche nach dem Absturz, soll das besser werden. Dann sollen alle Schulkinder Wiesmoors für einen Tag zu Hause bleiben. Die 7.000 Flugblätter, die alle Eltern zum Schulboykott aufrufen, sind schon gedruckt.